Stadtmagazin Witten: Lehren und Lernen

Wenn man Bildung tauschen könnte …

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Patenprojekt eröffnet Chancen

›Chancenungerechtigkeit‹ ist mehr als ein sperriger Begriff – sie ist für viele Kinder in Deutschland bittere Realität. Noch immer hängt der schulische Erfolg in Deutschland stark von der Herkunft ab: Wer aus einer Arbeiterfamilie kommt oder einen ausländischen Namen trägt, hat oft schlechtere Karten. Damit will die gemeinnützige Organisation ›Tausche Bildung für Wohnen e. V.‹ aufräumen. Sie unterstützt Kids mit schwierigen Startbedingungen – und bietet jungen Erwachsenen im Gegenzug Qualifizierung, Berufsorientierung und persönliche Entwicklung. Wir haben uns angeschaut, wie das Konzept in Witten funktioniert.

Ein guter Deal

Im Obergeschoss eines eher unscheinbaren Gebäudes an der Bahnhofstraße liegt die sogenannte Tauschbar – ein bunter, gemütlicher Treffpunkt für Kinder der 1. bis 7. Klasse. Hier betreuen vier BildungspatInnen im Bundesfreiwilligendienst und drei TeilzeitpatInnen täglich bis zu 15 kleine Gäste. Die Räume sind liebevoll dekoriert: Fotos und Bilder schmücken die Wände, Pappmaché-Planeten baumeln von der Decke. Es gibt Kuschelecken, Tische zum Lernen und Malen, jede Menge Spiele. Durch eine Tür geht’s direkt ins Café Leye – dort dürfen der Theatersaal und die alte Backstube für Gruppenangebote genutzt werden. Über der Backstube befindet sich die Bufdi-WG: vier Einzelzimmer, Gemeinschaftsküche, Wohnzimmer, zwei Bäder, ein Balkon auf über hundert Quadratmetern. Die großzügige Wohnung steht mietfrei zur Verfügung, plus 420 Euro Taschengeld monatlich. Kein schlechter Deal.

Lernen und Freizeit

Seit der Eröffnung der Wittener Tauschbar im August 2021 wurden über 100 SchülerInnen individuell begleitet, einige über mehrere Jahre hinweg. »Die Lernförderung findet von montags bis donnerstags statt«, erklärt Standortleiterin Leonie Schröder. »Vormittags plant das Team die Aktivitäten, nachmittags kommen die Kinder. Dann gibt’s erstmal kleine Snacks – Brote mit Frischkäse, etwas Gurke oder Karottensticks. Darauf folgt die Hausaufgabenbetreuung in Kleingruppen. Im Anschluss bleibt meist noch eine halbe Stunde Zeit für Spiele, Basteln oder Bewegung, je nach Laune. Und freitags ist Projekttag.« Hier setzen die PatInnen eigene Ideen um – ob Zirkus, Empowerment-Workshops oder Ausflüge. Was ›Tausche Bildung für Wohnen e. V.‹ besonders macht? »Unsere PatInnen werden an die Hand genommen«, sagt Leonie Schröder. »So können sie langsam in ihre Aufgabe eintauchen. Wir stehen ihnen eng zur Seite, auch bei der Planung der Freizeitprojekte.« Im Zuge der Ferien laufen die kreativ ausgetüftelten Programme sogar über zwei Wochen: Ostern steht ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit. Im Sommer sind sportliche Aktivitäten angesagt, vom Kletterwald bis zur Spaß-Olympiade. Und im Herbst ist Kulturzeit.

»Die Freundesgruppe gab es mit dazu«

Aktuell sind 65 Kinder bei der Wittener Tauschbar angemeldet. Die Teilnahme ist kostenlos und nicht an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Wir treffen zwei junge Bildungspatinnen: Mathilde (18) aus Würzburg und Luzie (19) aus Mannheim. Beide hatten nach dem Abi 2024 Lust auf etwas Praktisches und entschieden sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr. »Ich wollte so erst mal herausfinden, was ich brauche«, erzählt Luzie. »›Tausche Bildung für Wohnen‹ hat mich gleich angesprochen, weil man mit Kindern arbeiten kann und eine Wohnung gestellt bekommt – perfekt!« Mathilde nickt: »So ähnlich war es auch bei mir. Ich wollte unbedingt ausziehen, aber nicht allein. Hier hatte man durch die WG sofort Anschluss. Die Freundesgruppe gab es mit dazu.«

Mit Händen und Füßen

Natürlich bringt die Arbeit auch Herausforderungen mit sich. Viele Kids haben sprachliche oder soziale Schwierigkeiten. Und ganz ehrlich – wer weiß noch genau, wie man Textaufgaben in der 7. Klasse löst? »Ich habe beim Erklären von Hausaufgaben Dinge neu gelernt, die ich früher im Unterricht nie richtig verstanden habe«, verrät Luzie mit einem Lächeln. Besonders knifflig sei aber der Umgang mit den ganz Kleinen: »Erstklässler wollen vor allem spielen – also haben wir Spiele mit kleinen Lernintervallen kombiniert.« Wenn dann noch Sprachbarrieren hinzukamen, half manchmal nur die Verständigung mit Händen und Füßen. »Man muss wirklich viel motivieren und eine persönliche Bindung aufbauen«, ergänzt Mathilde. »Aber es ist krass zu sehen, welche Fortschritte die Kinder in dem einen Jahr gemacht haben.« Viele seien aufgeschlossener geworden, könnten besser mit Frust umgehen, kommunizieren, Regeln einhalten – und freuen sich, wenn sie ihre guten Noten vorzeigen.

»Wir bleiben in Witten!«

Gerne denken Luzie und Mathilde an eine Nacht im April zurück. Damals wurde die erste Gruppenübernachtung in der Tauschbar veranstaltet – mit allem, was dazu gehört: Luftmatratzen, Schlafsäcke und Nachtwanderung durch den Stadtpark. »Die Idee kam von den Kindern – aber es war für uns alle ein total tolles Erlebnis, das das Miteinander zusätzlich gefestigt hat.« Zum 1. August mussten sie ihre WG-Zimmer räumen. Die nächste Bufdi-Generation steht schon in den Startlöchern – bereit, Bildung gegen Wohnen zu tauschen. Für Luzie und Mathilde ist damit ein spannendes Jahr zu Ende gegangen. Aber es ist auch ein neuer Anfang. Denn so ganz wollen sich die beiden jungen Frauen noch nicht verabschieden. »Wir bleiben in Witten! Als Teilzeitpatinnen. Und wohnen zusammen in einer Zweier-WG.« Ihr Fazit? »Wir würden es wieder machen!«


© Foto: ›Tausche Bildung für Wohnen e.V.‹

Die erste Tauschbar wurde 2015 in Duisburg-Marxloh eröffnet. Heute ist das mehrfach ausgezeichnete Projekt an sechs
Standorten aktiv – in Duisburg, Gelsenkirchen, Dortmund,
Essen, Hamburg und Witten. Insgesamt wurden in zehn Jahren über 4.000 Kinder individuell betreut.

www.tauschebildung.org

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