Stadtmagazin Witten: Gesundheit und Wellness

»Irgendwann werden Sie wach und merken: Ich kann nicht mehr ohne«

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Vieraugengespräch mit einem Suchtberater

Ob auf dem Weihnachtsmarkt oder bei Familienfeiern: Überall hört man derzeit Gläser klirren und Korken knallen. Dabei wird oft vergessen, dass Wein, Sekt und Co. nicht nur Genuss versprechen, sondern auch Gefahren bergen. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind hierzulande 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig – die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Rund 7,9 Millionen Menschen konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Hilfe finden betroffene Wittenerinnen und Wittener im denkmalgeschützten Maschinenhaus der ehemaligen Zeche Franziska Tiefbau in der Röhrchenstraße. Hier hat die Sucht- und Drogenberatung der Diakonie Mark-Ruhr ihren Sitz. Wir sprachen mit dem Fachdienstleiter Frank Bannasch über die Herausforderungen und Unterstützungsangebote im Umgang mit Alkoholabhängigkeit.

Herr Bannasch, wie gefährlich ist Alkohol wirklich?

Alkohol ist in unserer Gesellschaft die ›Droge Nummer eins‹. Anders als bei vielen harten Drogen verläuft der Prozess zwar eher schleichend. Es sterben aber mehr Menschen an den Folgen ihrer Alkoholsucht als zum Beispiel an Heroin. Die volkswirtschaftlichen Kosten sind enorm. Und auch der ›Kollateralschaden‹ innerhalb der Familie ist gravierend.

Stimmt es, dass die Zahl der Menschen mit Suchtproblemen steigt? Was sind die Gründe dafür?

Ja, das können wir bestätigen. 2023 haben sich 620 Personen hilfesuchend an uns gewandt. In diesem Jahr wurde die 700 bereits Anfang Dezember überschritten. Ein Grund für den Anstieg ist sicher, dass wir durch unsere Onlineberatung sowie neue ambulante Angebote, wie etwa im Flüchtlingsheim an der Brauckstraße, mehr Menschen erreichen. Hinzu kommt aber auch, dass wir jetzt erst die Nachwehen der Corona-Pandemie spüren. Viele haben während der Lockdowns aus Frust und Langeweile zur Flasche gegriffen. Mit der Zeit entwickelte sich ein gewohnheitsmäßiger Missbrauch. Auch der problematische Medienkonsum hat sich übrigens während Corona verstärkt.

Was ist noch ›problematischer‹ Konsum und wo fängt die Sucht an?

Das ist schwer zu definieren. Abhängigkeit ist nicht gleich Abhängigkeit. Es gibt verschiedene Formen, wie das episodische Trinken, bei dem man wochenlang enthaltsam bleibt und dann an einem Wochenende exzessiv konsumiert, oder die Erhaltungsdosis, bei der ein niedriger Promillespiegel zum Dauerzustand wird. Irgendwann werden Sie wach und merken: Ich kann nicht mehr ohne. Wenn der fortschreitende Konsum mit sozialer Isolation, Antriebslosigkeit und körperlichen Veränderungen einhergeht, sollten die Alarmglocken schrillen.

Was würden Sie jemandem raten, der feststellt, dass er häufiger mal ›einen über den Durst‹ trinkt?

Wir wollen niemandem sein Feierabendbier verbieten. Wer aber klare Kante zeigt, hat es aus meiner Erfahrung einfacher. Die Leute neigen sonst nämlich dazu, unehrliche Verträge mit sich selbst zu schließen: ›Ein Bier beim Fernsehen am Wochenende wird ja wohl noch erlaubt sein.‹ Und das wäre es auch, wenn es bei dem einen Getränk bleiben würde. Doch dann wird es früher dunkel, man schaltet den Fernseher immer eher an, und wenn jetzt noch Feiertage hinzukommen, ist mittwochmittags plötzlich schon Wochenende. Ehe man sich versieht, steckt man wieder mitten drin in schlechten Gewohnheiten. Die gute Nachricht ist: Gewohnheiten kann man noch verändern. Ein Tipp von mir wäre zum Beispiel, vor jedem Glas Bier ein Glas Wasser zu trinken, um den Überblick zu behalten und Kontrollverlust vorzubeugen. Der Trick funktioniert aber natürlich nicht, wenn man bereits körperlich abhängig ist.

Wie helfen Sie Menschen, die stark alkoholkrank sind?

Wir vermitteln Entgiftung, Therapie und Nachsorge. Der Entzug sollte immer im Krankenhaus stattfinden, da es zu gefährlichen Nebenwirkungen wie Krampfanfällen kommen kann. Danach beginnt ein lebenslanger Kampf, weil die gesellschaftliche Akzeptanz von Alkohol so hoch ist. Auf Feiern muss man sich ja oft eher erklären, wenn man nichts trinken will. Auch dass Alkohol immer und überall erhältlich ist, macht die Sache nicht gerade leichter. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Gründe für den übermäßigen Konsum zu hinterfragen: Warum trinkst du? Wobei hilft es dir? Willst du vergessen, entspannen, dich besser fühlen? Gemeinsam versuchen wir dann, alternative Wege zu finden, um mit Stress, Feierlichkeiten oder psychischen Problemen umzugehen.

Was kann ich tun, wenn ich mir Sorgen um jemanden in meinem Bekanntenkreis mache?

Auf jeden Fall sollten Sie nicht direkt mit dem Finger wedeln und eine Diagnose stellen, da dies oft zu Abwehrreaktionen führt. Stattdessen könnten Sie ansprechen, welche Symptome Ihnen bei Ihrem Bekannten aufgefallen sind, und Ihre Hilfe anbieten. Damit senden Sie das Signal: Was du verbergen willst, lässt sich nicht verheimlichen. Dies gilt übrigens auch im Umgang mit engen Angehörigen, die häufig erstmal versuchen, das Problem allein und im Geheimen zu lösen, bis sie irgendwann verzweifelt bei uns landen. Wir sagen: Kommen Sie lieber zu früh als zu spät! Unsere Unterstützung ist professionell, kostenlos und vertraulich. Außerdem gibt es in Witten mehrere Selbsthilfegruppen, die eine wertvolle Rolle im Hilfesystem spielen, da im Notfall immer jemand erreichbar ist. Wer freitagsabends Suchtdruck verspürt, kann eventuell nicht warten, bis wir montagsmorgens wieder unsere Türen öffnen.

Unter einer Sucht leiden nicht nur die Partner, sondern auch die Kinder. Wie gehen Sie vor, wenn Sie merken, dass Minderjährige betroffen sind?

Das ist in der Tat ein großes Problem. Egal ob ich eine Flasche Wodka intus habe oder mir Heroin beschaffen muss: Ich werde mich nicht um mein Kind kümmern können. Daher haben wir mit unserer Beratungsstelle die sogenannte FitKids-Zertifizierung erworben. Das Programm lenkt den Blick auf diejenigen, die sonst unter dem Radar laufen: die Kinder aus suchtbelasteten Familien. In Absprache mit den Eltern analysieren wir die Gefahrenlage und den Unterstützungsbedarf nach einem Ampelsystem und schauen, welche Stabilisierungsmöglichkeiten im Umfeld vorhanden sind. Denn auch Abhängige wünschen sich, gute Eltern sein. Gibt es einen getrenntlebenden Partner oder andere Angehörige, die einspringen würden? Welche städtischen, kirchlichen oder privaten Angebote vor Ort in Witten können ergänzend genutzt werden? Uns hat die Zertifizierung die Augen für die Bedürfnisse der Kinder geöffnet. Und die allermeisten Eltern sind sehr dankbar für den Support.

Webseite

Beratungsstelle

Sucht- und Drogenhilfe der Diakonie Mark-Ruhr

Röhrchenstr. 10 · 58452 Witten
Tel. 0 23 02 / 9 14 84-50
suchthilfe-witten [at] diakonie-mark-ruhr.de

Selbsthilfe-Kontaktstelle Witten / Wetter / Herdecke

Tel. 0 23 02 / 15 59
selbsthilfe-witten [at] paritaet-nrw.org
www.selbsthilfe-witten.de

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