Stadtmagazin Witten: Soziales

Zeit für Gemeinschaft

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Die gemütliche Zeit des Jahres hat begonnen, alleine schon deshalb, weil es morgens und abends nun wieder dunkel ist. Was bleibt uns anderes übrig, als uns in Gemütlichkeit zu flüchten?

Mancher von uns möchte sich vielleicht sogar vergraben. Die Nachrichten, die uns jeden Tag erreichen, führen oft nicht zu Wohlbefinden und Fröhlichkeit. In der Ukraine ist weiterhin Krieg, und mit dem Angriff auf Israel hat auch dort ein neuer Krieg begonnen. Die Erkältungswelle rollt, und Corona gibt es auch noch. Der ›Wir schaffen das alles‹-Tenor verhallt langsam, wir stecken in einer Zeit der Verunsicherung. Manche lieb gewonnene Wahrheit löst sich auf oder muss neu überdacht werden. Im Dauerkrisenmodus reagieren viele von uns mit Belastungssymptomen. Stress und Erschöpfung scheinen allgegenwärtig. Viele von uns sind irgendwie angespannt.

Zahllose Menschen haben sich in den letzten Jahren viel um andere gekümmert – aktiv und passiv. Wir haben über geflüchtete Menschen nachgedacht und geholfen. Wir haben gelernt, mit Corona und den unterschiedlichen Verhaltensweisen unserer Mitmenschen zu leben – ebenso wie mit einem Krieg ganz in unserer Nähe. In den letzten Jahren haben wir viel nach außen geschaut, Hilflosigkeit wahrgenommen und das alles irgendwie in uns aufgenommen.

Zerfaserte Krisen

All diese Krisen, und das macht vieles neu und nicht weniger kompliziert, erleben wir in unseren individuellen Echokammern und persönlichen Blasen. Social Media macht es möglich. Wir informieren uns da, wo wir die Infos bekommen, die wir hören wollen. Der Blick über den Tellerrand rückt oft in weite Ferne, und das eigene Echo hallt zurück und bestätigt unsere Meinungen, Vermutungen und Ängste. Gespräche werden so schwieriger, denn es gibt ja kaum mehr Gründe, sich die Meinung anderer anzuhören, sich mit ihnen auseinanderzusetzen oder mit eigenen Argumenten zu überzeugen. Die eigene Blase ist da, eine andere nicht nötig. Wir rücken voneinander ab. In einer Zeit, in der uns Nähe und Gemeinschaft besonders gut tun würde. Aus separierten Meinungen werden voneinander getrennte Menschen.

Die Meinungsfreiheit

All das wird umweht von einem Begriff, der bis vor einigen Jahren kaum in der Alltagssprache zu finden war: die Meinungsfreiheit. Sie ist – und das ist nicht zu diskutieren – eine der wichtigsten Errungenschaften und Fundamente unserer demokratischen Gesellschaft. Und genau aus diesem Grund müssen wir sorgsam mit ihr umgehen. Ein andauernder Rückbezug auf die Meinungsfreiheit lässt eine Gemeinschaft zerfasern. Denn sie ist ein Totschlagargument. Wird sie herangezogen, ist sie ein scharfes Schwert, das jede Diskussion zerschneidet, auf billigste Art und Weise.
Daher sollten wir sie schützen. Wie? Indem wir uns wieder eingestehen und zutrauen, dass jeder Mensch seine Meinung haben und ausdrücken darf. Nicht jede Meinung ist jedoch gleichermaßen richtig, gut intendiert oder fundiert. Manche Meinungen basieren auf gar nichts. Manche Meinungen sind sehr weit entfernt von jeder sinnvollen Kategorie und somit schlichter Quatsch. Freiheit entsteht dort, wo Regeln eingehalten werden. Und das gilt vor allem für die Meinungsfreiheit.

Regeln

Es ist gut, dass wir unser Zusammenleben immer wieder in Frage stellen und uns fragen, wie wir zusammen arbeiten, leben und lieben wollen. Daraus ist in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis entstanden, dass alle Geschlechter gleich viel wert sind, Kindererziehung und Gewalt sich ausschließen, jeder so lieben kann, wie er oder sie es will. Wir haben Quatsch abgeschafft und wertvolles hinzugewonnen. Das alles bedeutet aber nicht, dass alles irgendwie relativ ist und es eigentlich keine Wahrheiten gibt. Es gibt sie. Oft geschaffen durch valide Erfahrungen und wissenschaftliche Forschung.
Impfungen retten Leben, Gewalt gegen andere Menschen ist schlecht, wer angegriffen wird, darf sich verteidigen, Raider heißt jetzt Twix, im Sturm sollte man Wälder meiden und, und, und. Oft verwechseln wir persönliche Wahrheiten, die nichts anderes als Meinungen sind, mit Wahrheiten im ursprünglichen Sinne – der Realität. Und persönliche Meinungen dürfen stets geäußert werden, was sie jedoch nicht zur Realität werden lässt. Mancher Quatsch bleibt Quatsch. Das lässt uns voneinander abrücken.
Wir haben Regeln, die auf Wahrheiten basieren. Und wer diese Regeln ablehnt, kann sie nicht mit seiner persönlichen Wahrheit schönreden oder gar legitimieren. Wer Regeln ablehnt, darf mit Strafen rechnen müssen. So entsteht Freiheit. Freiheit und ein übersteigertes Autonomiebedürfnis schließen sich dabei gegeneinander aus. Freiheit entsteht da, wo wir die anderen so sein lassen, wie sie sein wollen – solange grundlegende Regeln eingehalten werden.

Was wir dafür aufgeben sollten

Die persönliche Echokammer ist dabei so gemütlich, weil sie das Lustprinzip erfüllt – die unmittelbare Befriedigung unserer individuellen Bedürfnisse. Es ist einfach schön, nur das zu lesen und zu hören, was die eigene Meinung bestätigt. Aber das ist zu einfach. Kurzfristig schön. Mittel- und langfristig rücken wir so voneinander ab. Um zusammenzurücken, müssen wir unsere Echokammern verlassen, unsere Meinungen müssen wir dafür nicht aufgeben. Aber wir dürfen sie um Ideen und Ansätze von anderen ergänzen.

Angst

Vermehrt treffen wir auf Menschen, die für ihre Meinungen bereit sind, die Freiheit anderer zu begrenzen. Wenn Meinungsfreiheit andere Freiheiten beschneidet, Angst schürt und Gewaltbereitschaft predigt, dann verpufft Freiheit. Diese Angst darf sein, sie darf uns aber nicht leiten. Im Gegenteil: Wir dürfen sie als Motivation verstehen, gerade jetzt, enger zusammenzurücken. Unsere Werte und Regeln sind gut und wir dürfen sie leben. Wer Ablehnung, Gewalt und Hass mit Meinungsfreiheit decken möchte, präsentiert uns letztlich nur persönliche Abwehrmechanismen.
Als regressive Reaktionsbildung wird Gewalt dort angewendet, wo andere Mittel nicht gelernt wurden und somit nicht zur Verfügung stehen. Wer seine eigene Meinung mit Gewalt durchsetzt, handelt wie ein beleidigtes Kind. Und wer einem beleidigten, aufstampfenden Kind alles durchgehen lässt, steht irgendwann mit dem Rücken zur Wand.

Gemeinsam, nicht einsam

Wir brauchen keine Angst zu haben. Wir schaffen das. Anders als gedacht, aber zusammen und im Sinne der Regeln, die wir uns demokratisch selber geschaffen haben. Lassen Sie uns alle zusammenrücken! Auf Weihnachtsmärkten, im Bus, im Supermarkt oder beim gemütlichen Abend mit Freunden. Lassen Sie uns wieder mehr Meinungen austauschen und klar aufstehen gegen die, die uns ihre Meinungen und Fantasien als Wahrheiten verkaufen wollen. Lassen Sie uns zusammen wieder entspannter werden, weil wir wissen, dass nicht jede Meinung Freiheit postuliert. Lassen Sie uns zusammen Hass und Hetze begegnen. In dem Wissen, dass wir zusammenrücken und uns nicht separieren lassen wollen.

Eine schöne Vorweihnachtszeit

Ihr
Christoph Palmert

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