Stadtmagazin Witten: Soziales

Rettet die Lebensmittel!

Foto(s) zum Vergrößern anklicken

Quellenangabe in den Vergrößerungen

foodsharing in Witten

Armut und Mangelernährung gibt es auch bei uns in Deutschland. Gleichzeitig landen absurd hohe Mengen an Lebensmitteln im Abfallcontainer – laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft ca. 12 Millionen Tonnen pro Jahr. Um der sinnlosen Verschwendung entgegenzuwirken und Essbares vor dem Müll zu retten, entstand 2012 die foodsharing-Bewegung mit inzwischen über 130.000 ehrenamtlich engagierten Helfer*innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir sprachen mit den Wittener Foodsaverinnen Melanie (34) und Ricarda (36).

Den Begriff ›foodsharing‹ haben die meisten wohl schon einmal gehört, aber die wenigsten wissen, was genau dahintersteckt. Könnt ihr das System zum Einstieg kurz erklären?

Es ist eigentlich ganz einfach: Wir holen überproduzierte Lebensmittel direkt bei den Betrieben ab, z. B. in Supermärkten, Bäckereien, Kantinen und Hotels oder auf dem Wochenmarkt. Die geretteten Produkte werden dann kostenfrei verteilt: im Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft, in Wohnungslosen- oder Geflüchtetenunterkünften, über eine öffentliche Telegramgruppe oder die Plattform foodsharing.de. Darüber hinaus werden öffentlich zugängliche Regale und Kühlschränke bestückt, sogenannte ›Fair-Teiler‹. Eine solche Verteilerstelle befindet sich in Witten im Radcafé an der Augustastraße. Hier können sich alle bedienen.

Wie seid ihr beiden zur Initiative gekommen? Warum liegt euch das Thema am Herzen?

Melanie: Ich stamme gebürtig aus einem anderen Land und weiß aus persönlicher Erfahrung, was es bedeutet, wenn Menschen am Existenzminimum kämpfen müssen, weil der Zugang zu essenziellen Ressourcen stark eingeschränkt ist. Daher ist es für mich unverständlich, dass jährlich Tonnen an genießbaren Lebensmitteln weggeworfen werden, statt diese besser zu verteilen. Wir alle sollten unser Konsumverhalten überdenken. Die Wertschätzung gegenüber Nahrung ist dabei ein wichtiger Schritt, den jeder für sich leicht umsetzen kann.
Ricarda: Ich habe durch einen Kollegen von foodsharing erfahren. Er hat oft tolle Snacks und leckeres Obst mit zur Arbeit gebracht. Mich hat es überrascht, dass die Produkte einwandfrei gewesen sind, als hätte man sie gerade selbst im Supermarkt eingekauft. Ich hätte nie gedacht, dass Waren in solcher Spitzenqualität entsorgt werden.

Rettet ihr alle Arten von Lebensmitteln oder sind bestimmte leicht verderbliche Produkte ausgenommen? Welche Rolle spielt das Mindesthaltbarkeitsdatum?

Lebensmittel mit abgelaufenen MHD fallen bei uns in großen Mengen an, da die Geschäfte diese nicht mehr verkaufen, obwohl sie in den meisten Fällen noch super sind. Hier gilt für uns die Regel ›sehen – riechen – schmecken‹. Man kann seinen Sinnen mehr Vertrauen schenken als dem MHD auf der Verpackung. Anders sieht es bei Lebensmitteln mit abgelaufenem Verbrauchsdatum aus. Diese sind zu entsorgen, da sie ein gesundheitliches Risiko darstellen. Grundsätzlich muss die Kühlkette aufrechterhalten und, insbesondere bei unverpackten Speisen, auf Hygiene geachtet werden, z. B. durch die Verwendung von Einweghandschuhen. Alkohol geben wir selbstverständlich nur an Personen über 18 Jahren weiter.

Nutzt ihr foodsharing auch selbst, statt im Supermarkt einzukaufen?

Ricarda: Natürlich. Ich persönlich freue mich immer, wenn ich in Hotels oder Kantinen die Reste vom Buffet retten darf, dann muss ich an dem Tag nicht mehr kochen. Außerdem gibt es bei fast jedem Einsatz eine tolle Überraschung: eine exotische Obstsorte oder ein Gemüse, das man noch nie probiert hat und das üblicherweise nicht auf dem Einkaufzettel stehen würde.
Melanie: Manchmal verbinde ich meine Einkäufe mit den Abholungen und schaue erst, ob es zufällig etwas im Überfluss gibt, das ich brauche. Oft werden uns beeindruckende Mengen überreicht: 25 kg Rosenkohl, 80 Tafeln Schokolade, ein Einkaufswagen randvoll mit Toastbrot …

Hier mal eine etwas provokante Frage: Nehmt ihr nicht der Tafel das Essen für die Bedürftigen weg?

Nein, das kann garantiert ausgeschlossen werden. Foodsharing arbeitet nach dem ›Tafel-First-Prinzip‹. Das heißt, wir stehen mit der Tafel in Kontakt und kooperieren nur mit Spendern, bei denen die Tafel aus organisatorischen Gründen nicht abholen kann. Manche Betriebe haben sogar einen so großen Überschuss, dass die Tafel nicht alle übriggebliebenen Lebensmittel bewältigt.

Angenommen, ich möchte helfen. Kann ich bei euch mitmachen?

Grundsätzlich ja, es gibt sogar verschiedene Möglichkeiten. Hier ist es wichtig ist, zwischen Foodsavern und Foodsharern zu unterscheiden. Als Foodsaver ist man durch die Einarbeitung dazu qualifiziert, Nahrungsmittel in Betrieben abzuholen und diese weiterzuvermitteln. Beispielsweise nehmen wir jährlich an einer Hygienebelehrung teil. Die verschiedenen Aufgaben werden in diversen Arbeitsgruppen auf viele Schultern verteilt. So haben alle die Möglichkeit, sich mit ihren Stärken und Interessen im Wittener Bezirk einzubringen. Als Foodsharer verteilt man das Essen dagegen ausschließlich auf privater Ebene, zum Beispiel an Familie, Freunde, Kollegen, Nachbarn oder über die Telegram-Gruppe, wenn es etwa nach einer Geburtstagsfeier Reste gibt oder der Kühlschrank vor dem Urlaub noch geleert werden muss.

Klingt nach einer guten Sache, die aber sicher auch mit viel Mühe verbunden ist. Lohnt sich der Aufwand?

In Witten gibt es mittlerweile über 300 ehrenamtliche Foodsaver. Seit der Entstehung des Bezirks im Jahre 2014 wurden bei über 8.000 Rettungseinsätzen 261 Tonnen Lebensmittel vor der Mülltonne bewahrt und weiterverschenkt. Neben diesem messbaren Erfolg geht es uns aber auch darum, unsere Vision in die Welt hinauszutragen und ein Bewusstsein zu schaffen für dieses wichtige Thema. Darüber hinaus wäre eine gesetzliche Regelung wichtig. Frankreich beispielsweise macht es vor und verbietet seit 2016 das Wegwerfen von Lebensmitteln.

Was würdet ihr Betrieben sagen, die foodsharing noch skeptisch gegenüberstehen?

Für das Image ist es auf jeden Fall ein Zugewinn, wenn man überschüssige Produkte spendet, weil immer mehr Menschen bei Unternehmen auf Nachhaltigkeit achten. Wir freuen uns über jede neue Kooperation. Schreiben Sie einfach eine E-Mail. Gemeinsam mit uns können Sie sich dafür einsetzen, dass aussortierte und unverkäufliche Lebensmittel eine sinnvolle Verwendung erfahren.

Weitere Infos: Fair-Teiler im Radcafé · Augustastr. 36 · unternehmen [at] foodsharing.de · foodsharing.de

Facebook Logo  diese Seite auf Facebook teilen0