Ein Plädoyer für Aggression
Ich bin ein Buchladenfan. Ich stehe drauf, durch Bücherregale zu stromern und neue Literatur kennenzulernen. Haptisch, geruchlich, physisch. Leider wird meine Lauffläche durch Regalwände in Witten immer geringer, sodass ich manchmal auch auf andere Städte ausweiche. Anlaufpunkte Nummer eins sind aber immer unsere Stadtbücherei, Lehmkul und die Mayersche in der Innenstadt.
Egal, ob groß oder klein, Buchhandlungen haben stets ein pralles Sortiment an Selbsthilfe- und Selbstoptimierungsliteratur. Darin erfährt man alles, um endlich ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Der Schlüssel zum Glück ist meistens eine Methode zur positiven Selbstentfaltung. Kennste eins, kennste fast alle.
Nun weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es im Leben Phasen gibt, in denen man Glück, Zufriedenheit und Selbstentfaltung mit der Lupe suchen muss und trotzdem wenig davon findet. Jeder gute Tipp klingt dann wie Hohn, denn wenn's so einfach wäre, würde man es ja machen. Man steckt im Loch, in einer Krise. Nennen Sie es, wie Sie wollen.
»Machste nix?«
»Doch.«
»Was denn?«
Ich spreche hier nicht von klinischen Depressionen, denn die sind weit mehr als eine Krise oder ein Loch, und sie gehören in die Hände von Fachmenschen. Bücher und Artikel im Stadtmagazin sind für sowas keine Unterstützung. In Alltagskrisen und Löchern hilft aber eine Frage, nämlich: Was lässt mich denn gerade so fühlen, wie ich fühle? Welche Tatsache stört mich in meinem Alltag, stört mich so, dass es mir schlecht geht?
Als Denkhilfe kann dabei eine Liste mit Affekten, Gefühlen und Emotionen helfen: Fühle ich mich freudig, verzweifelt, wütend, überrascht, zornig, mutig, eifersüchtig usw. usw.? Man kann die Frage auch umdrehen und sich fragen, was man gerade vielleicht unterdrückt und nicht rauslassen kann oder möchte oder darf.
Unterschätzte und unterdrückte Affekte sind häufig Frustration, Wut und Ärger, mündend in Aggression, sobald sie kein adäquates Ventil finden. Und die darf nicht sein, denn mit ihr assoziieren wir ausladende Wut oder sogar Gewalt. Dabei stellt sie, die Gewalt, nur das finale Ende eines Spektrums dar und ist nicht die automatische Folge von Aggression.
Was haben wir gegen sie?
Wortwörtlich bedeutet Aggression ›an etwas herangehen‹ oder ›etwas in Angriff nehmen‹. Ja, auch ein Angriffskrieg ist eine Aggression, aber eben am eskalierenden Ende der Skala.
Dabei sind auch Gefühle, die wir alltäglich positiv konnotieren, schmerzhaft und schlecht, wenn man sie bis zum Ende ausreizt. Aus Liebe wird Eifersucht, aus Freude Manie, aus Überraschung Panik. Alles ist Mist, wenn man es nur überreizt, und daher dürfen wir uns unsere nicht-überreizte, natürlich vorkommende Aggression guten Gewissens einmal genauer anschauen.
Als Teilzeit-Hausmann mit einigen Kindern kenne ich verregnete Schnupfnasen-Wochenenden mit massivem Nöl-Faktor. 50 Stunden non-stop Aktivitäten, auf die ich keine Lust habe, bzw. gefühlter Stillstand. Am Ende steht die Hoffnung auf das Haus verlassende Kinder an einem der folgenden Tage und Alltag in seinem positivsten Sinn. Solche Phasen tun mir nicht gut. Warum? Sie machen mich aggressiv, und ich kann diese Aggression nur bedingt rauslassen. Ich bin gerne für meine Kinder da, würde aber gerne auch was anderes machen. Das macht aggressiv. Mich zumindest manchmal.
Unterdrückte Aggression tut nicht gut und – *zack* – fühle ich mich unwohl. Durch das Eingestehen dieser Tatsache geht’s mir schon besser. Ich bin weniger hilflos, weil ich benennen kann, wo der Schuh drückt.
Und trotzdem schieben wir sie immer weiter an den sozio-kulturellen Rand. Aggression ist gestrig und muss überwunden werden, teils gilt sie als bereits überwunden. In der Verhandlungsliteratur etwa gibt es plakative Beispiele dafür, wie früher Streitfälle versucht wurden beizulegen:
A und B waren im Krieg, und nach Zeiten des Blutvergießens traf man sich oft auf neutralem Boden, um eine Beilegung oder einen Kompromiss auszuhandeln. Vielfach wurden die Delegationen der Gegner dann zeitversetzt von den Gastgebern empfangen und in weiser Voraussicht in Käfige gesperrt. Die generelle Impulskontrolle war so wenig ausgebildet, dass man sich absichern musste, dass nicht auch die Verhandler wild aufeinander losgingen und sich totschlugen.
Haben wir überwunden.
Heute sind wir im Zeitalter der Diplomatie und formen unsere Sprache entsprechend ihren Regeln. Als gelte es, kriegerische Handlungen zu vermeiden, balancieren wir unsere Worte aus, formen sie mundgerecht und entgraten sie bis zur Unkenntlichkeit. Aus ›Ich hab keinen Bock!‹ wird ›Vielleicht können wir noch über andere Optionen nachdenken‹ und aus ›Räum dein Zimmer auf!‹ wird ›Vielleicht würdest du dich wohler fühlen, wenn weniger Sachen in deinem Zimmer rumliegen würden?!‹.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich finde es super, wenn wir die Kniffe und Herangehensweisen der Diplomatie und der gewaltlosen Kommunikation kennen und können. Reflektierend kann man aber feststellen, dass das Fernbleiben von Aggression Passivität bedeutet. Und Passivität macht potenziell träge, apathisch und teilnahmslos.
Richtig weh tut es dann, wenn die Aggression über die Passivität hinwegquillt, weil sie zu viel geworden ist und man einer Gesprächspartnerin oder einem Gesprächspartner gegenübersitzt, die uns passiv-aggressiv begegnen. Wie jedes andere Gefühl, jede Emotion kann man Aggression unterdrücken. Die Aggression interessiert das aber nur am Rande. Sie geht ihren Weg und sucht sich ihre Kanäle. Und das tut nicht gut. Ganz banal, ganz einfach.
Aggressiv sein bedeutet, an etwas heranzugehen. Darin steckt Neugierde, der Aspekt, etwas zu beginnen und zu starten. Und das ist gut. Frust und Wut entstehen, ganz normal und ganz alltäglich, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden und uns das erregt oder aufregt. Nicht ventilierter Frust und Wut führen zu Aggression, zu passiv-aggressivem Verhalten und unter Umständen zu depressivem Erleben.
Früher war vieles anders.
Nee. Besser war früher vieles nicht. Aber aggressionsabbauender.
Wut, Frust und Aggression fließen oft dann gut ab, wenn wir sie körperlich quasi ausschwitzen können. Sie kennen das: Sobald Sie wütend werden, wird auch Ihr Körper aktiv und der Geisteszustand physisch spürbar. Energie entsteht und sucht sich ihren Weg.
Wenn wir diese Energie rauslassen können, ist schon viel gewonnen.
Menschen in früheren Zeiten fanden in ihrem Alltag viele Tätigkeiten, für die Aggression hilfreich und gewinnbringend war: Wasser holen, Holz hacken, jagen, Wäsche mit der Hand waschen, Geschirr spülen, zum Einkaufsladen laufen und wieder zurück. Alles Tätigkeiten, die körperliche Anstrengung benötigten und Aggressionskompensation bedeuteten. Vieles davon fehlt heute und wird bei vielen von uns nicht durch Sport oder sonstige Bewegung ersetzt. Frustration, Wut, Ärger und Aggression fluten an und erzeugen Druck.
Raus damit!
Das Plädoyer kann daher nur lauten: Nimm es wahr, und lass es raus! Wut und Ärger gehören zum Leben und zum Alltag dazu. Sie sind Alltagsbegleiter und wollen wahrgenommen werden. Deshalb sollten wir es ihnen erlauben, sich zu zeigen und ausgelebt zu werden, dann hauen sie auch wieder ab.
Aggression rauslassen bedeutet nicht wüten, schreien, sich auf den Boden legen und trommeln oder stampfen. Bei Kindern ist das so, aber wir entwickeln uns. Als Erwachsene geht es darum zu spüren, dass Aggression da ist, und mit offenen Worten zu reagieren. Das bedeutet, dem Gegenüber auch mal klar mitzuteilen, dass man gerade etwas komplett anders sieht. Das bedeutet auch, mal wütend auf den Tisch zu hauen, vielleicht im stillen Kämmerlein, es aber nicht gänzlich zu unterlassen. Es bedeutet, manchmal klar zu benennen, dass man auf etwas einfach keine Lust hat und stattdessen nun etwas anderes machen wird. Es bedeutet auch mal unfreundlich zu sein, wenn es möglich ist. Respekt und Freundlichkeit sind zwei verschiedene Dinge, und wenn mich eine Situation aggressiv macht, ist es wesentlich respektvoller, meinem Gegenüber dies mitzuteilen, als in passiv-aggressives Gehabe abzugleiten.
Ich plädiere dafür, dass wir es zulassen, auch gesellschaftlich weniger akzeptierte Gefühle zuzulassen, denn dadurch wird unser aller Zusammenleben angenehmer.
Das klingt paradox, ist es auch und gleichzeitig ein wertvoller Schlüssel zur kollektiven Entspannung.
Passen Sie auf sich und andere auf!
Ihr
Christoph Palmert
