Stadtmagazin Witten: In der Stadt

Es wird weniger!

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Warum immer mehr Menschen in Witten Müll sammeln – und dabei auch noch Spaß haben

Am 10. September war am Ufer der Ruhr zwischen Bommern und Herbede Erstaunliches zu beobachten: Menschen in Freizeitkleidung suchten im Nieselregen nach Abfällen – und schienen sich dabei auch noch zu amüsieren! »Ja, es ist ein komisches Hobby«, scherzen Patrick Schulz und John Hodgkinson vom Verein weniger e. V. Als lokale Ansprechpartner haben sie den Wittener RuhrCleanUp im Rahmen der bundesweiten Aktion koordiniert. Über eine Tonne Müll wurde an diesem Tag allein aus der hiesigen Natur gefischt.

»Wenn wir zu Hause etwas wegwerfen, verschmutzen wir die andere Seite der Welt«

Vor einigen Jahren sah das Leben für Patrick Schulz noch ganz anders aus. »Ich war voll auf Karriere aus: Anzug, Krawatte, dickes Auto, teure Reisen«, erzählt der ehemalige Banker. Eine seiner Reisen führte ihn nach Tofino an der kanadischen Westküste, wo er sich spontan an einer Strandreinigung beteiligte. »Die Bucht war so verdreckt, dass wir pro Quadratmeter eine Stunde gebraucht haben. Das hat mir die Augen geöffnet. Außer uns waren keine Menschen dort. Was angeschwemmt wurde, stammte nicht von der Bevölkerung, sondern aus anderen Ländern wie Deutschland oder Japan. Da wurde mir klar: Wenn wir zu Hause etwas wegwerfen, verschmutzen wir die andere Seite der Welt. Danach habe ich meinen Job gekündigt und mich in das Thema ›globale Müllkrise‹ gestürzt – um wieder schöne Strände zu zaubern!«

Witten bolzt!

2018 organisierte der heute 29-Jährige zum ersten Mal ›bochum.bolzt‹ auf dem Sportplatz, auf dem er selbst als Kind gekickt hatte. Das Projekt verbindet Fußball und Müllsammeln im Umfeld von Schulen und Sportstätten. Das kam so gut an, dass weitere Turniere für den guten Zweck nicht lange auf sich warten ließen. Auch die örtlichen Cleanups nahm der ehemalige Student der Uni Witten-Herdecke unter seine Fittiche. Alles ehrenamtlich. Da geht noch mehr, dachte John Hodgkinson, der durch sein Wirtschaftsstudium mit dem Schwerpunkt ›Non-Profit-Organisationen‹ ein Gespür für gute Ideen hat. »Ende 2020 saßen wir kurz vor Weihnachten zusammen, und ich habe Patrick gefragt: Warum bolzt du eigentlich nur in Bochum und Witten? Die Schulen rennen dir die Türen ein! Das ist ein cooles Konzept. Das muss man größer denken.« So entstand der Gedanke, ›deineStadt.bolzt‹ in die ganze Metropole Ruhr zu bringen. »Im Ballungsraum Ruhrgebiet gibt es viele Bolzplätze – und eben auch viel Müll!«

Ein Naturparadies für die Hüllbergschule

Am 19. Juni 2021 wurde der Verein weniger e. V. mit Unterstützung eines Gründerstipendiums des Landes NRW aus der Taufe gehoben. Seitdem sind die beiden Männer nahezu rund um die Uhr für die verschiedenen Projekte auf Achse. Unter anderem fungieren sie als Partner des landesweiten Bildungsprogramms ›Schule der Zukunft‹, begleiten bei der Bewerbung und übernehmen die Umweltbildung im Klassenzimmer. »Mit der Hüllbergschule Witten haben wir beispielsweise ein Naturparadies auf dem Schulhof angelegt, mit Wildblumenwiese, Hochbeeten und Kompostkiste, sodass die Kinder den Kreislauf sehen können: vom Bestäuben über das Ernten bis hin zur Resteverwertung«, erklärt Patrick Schulz. Ihr Wissen teilen die zwei Umweltschützer aber nicht nur mit jungen Leuten. »Wir unterstützen jeden, der sich für nachhaltige Entwicklung engagieren möchte«, sagt John Hodgkinson, »etwa bei der Erstellung von Konzepten und Förderanträgen oder der Gestaltung einer Website. Außerdem beraten wir Kommunen und Unternehmen in Sachen Abfallvermeidung.«

»Eine Zigarette kann 1.000 Liter Wasser verseuchen«

Von Motorhauben, Autotüren und -reifen über Plastikverpackungen und leere Gasflaschen bis hin zu gefährlichen Fallen aus Stacheldraht: Es ist unfassbar, was hierzulande alles in der Natur landet. Insgesamt über zehn Tonnen Müll haben die beiden Aktivisten seit 2018 mit ihren Helferinnen und Helfern in Bochum und Witten eingesammelt. Dazu kommen über 60.000 Zigarettenstummel. »Es ist erschreckend normal, Kippen einfach wegzuschnippen – im Verhältnis zur Umweltsünde«, so John Hodgkinson. »Ein Filter braucht bis zu sieben Jahre, bis er verwest. Es genügt ein Starkregen, um die Giftstoffe zu lösen, die dann ins Grundwasser gelangen. Eine Zigarette kann 1.000 Liter Wasser verseuchen.« Aus diesem Grund ist weniger e. V. auch Annahmestelle für Zigarettenkippen. Diese werden dann an einen Kooperationspartner weitergereicht und zu Plastikprodukten wie Aschenbechern recycelt.

»Man schmeißt nichts leichtfertig weg, wenn man es später aufsammeln muss«

»Wir sind keine privat organisierte Abfallentsorgung!«, betont Patrick Schulz. »Das könnten wir auch gar nicht leisten. Uns geht es um Bewusstseinsbildung. Durch unseren Konsum produzieren wir Reste, die verbrannt werden oder am Wegesrand landen. Diese Erkenntnis ist wie ein An-stupser: Man schmeißt nichts leichtfertig weg, wenn man es später aufsammeln muss.« Aber sind die Menschen, die beim Cleanup und beim Bolzen mitmachen, überhaupt die richtigen Adressaten? »Beim Bolzen in der Schule ja, bei Cleanups zum Großteil wohl eher nicht«, räumt er ein. »Jedoch inspirieren diese Menschen wieder andere und sorgen dafür, dass unsere Idee weitergetragen wird: an Familie, Freunde, Bekannte oder auch zufällige Passanten, die uns sehen und dadurch anfangen nachzudenken. Wenn mich ein Mann auf der Straße anspricht und mir erzählt: ›Ich habe mitgekriegt, was ihr hier macht, und meine Kippe in der Aschentonne entsorgt‹, ist das jedes Mal ein kleiner Erfolg. In Rüdinghausen trugen die Kinder nach dem Fußballturnier gemeinsam einen riesigen Zaun aus dem Wald – lauthals singend. Das bleibt hängen!«

»Es braucht eine Bevölkerung, die sagt: ›Wir machen das!‹«

Der Spaß an der Sache ist der Funke, der die Bewegung in ein Lauffeuer verwandeln könnte. »Viele Menschen sind total bereit, Umweltschutz mitzutragen, doch es fällt schwer, Verzicht auszuhalten, einfach mal ›weniger‹ zu machen«, so Patrick Schulz. »Die Politik hat Angst, Einschränkungen auszusprechen. Es braucht eine Bevölkerung, die sagt: ›Wir machen das!‹ Und wir machen es gerne. Verzicht hat auch einen Mehrwert: Weniger Wohnfläche bedeutet für mich mehr Zeit im Van. Wenn ich sehe, dass Kekse dreifach verpackt sind, frage ich mich, ob ich diese Kekse wirklich brauche. Es fällt dann nicht so viel Plastik an, und für die Gesundheit ist es auch besser. Als mir letztens das Handy geklaut wurde, habe ich mir von Freunden ein gebrauchtes besorgt.« »Natürlich muss nicht jeder so ein Hardliner sein und wie Patrick in seinem Van leben«, ergänzt John Hodgkinson mit einem Schmunzeln. »Aber Patricks Einstellung hat mich definitiv beeinflusst. Und bestimmt habe ich auch wieder andere damit angesteckt.«

Im besten Fall würde der Verein dadurch irgendwann überflüssig werden. Dieser Zeitpunkt liegt zwar noch in weiter Ferne, rückt aber mit jeder Aktion ein klitzekleines bisschen näher. Das zeigen die Zahlen: Während beim Wittener Ruhr Cleanup 2020 noch rund zwei Tonnen Unrat aufgelesen wurden, waren es 2021 nur noch 1,8 Tonnen und 2022 sogar nur 1,1 Tonnen. Es wird weniger!

Weitere Infos: www.wenigerev.de

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