Stadtmagazin Witten: Gesundheit und Wellness

Die Eventisierung der Ruhe

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Urlaub als Stressfaktor und warum das Quatsch ist

Ich liege auf meinem Paddelboot in der Mitte eines wunderbaren Sees irgendwo in Österreich und bin umgeben von zahllosen Konjunktiven.

Ich könnte eine Schifffahrt machen.
Ich könnte mir ein Fahrrad leihen und downhillen.
Ich könnte auf ein Seefest gehen.
Ich könnte mit den Kindern einen Abenteuerspielplatz besuchen.
Ich könnte organisierte Abenteuer erleben.
Ich könnte in Läden shoppen gehen, die es so auch in Witten gibt.

Ich könnte. Und dass ich es nicht mache, erzeugt in mir so etwas wie Unruhe. Ich bin hier im Urlaub. Und diese Angebote gibt es wahrscheinlich aus guten Gründen. Wahrscheinlich haben sie einen Sinn, sonst gäbe sie es ja nicht.

Aus ›Ich könnte‹ entsteht so rasch ein inneres ›Ich muss‹.

Wenn wir heute reisen, dann rasen wir oft. Flughafen, zack, Fernziel, zack, jede denkbare Touri-Attraktion vor Ort mitnehmen, zack, Instagram füttern, boom. Müde wieder zu Hause ankommen. #travelgram

Das Wort ›Ferien‹ hat seine Herkunft im Begriff ›Ruhetag‹. Stattdessen füllen wir die Urlaube mit Action, Input und Challenges. Wir füllen unsere Terminkalender ähnlich wie zu Hause und unterbrechen das gemütliche Frühstück, um pünktlich beim Alm-Yoga oder Beachsoccer zu sein. Wir achten auf alle uns umgebenden Angebote. Und wenig auf uns. Wir machen nicht einfach mal nichts, stolpern stattdessen von Freizeit-Termin zu Freizeit-Termin und straucheln ins Erlebnis-Burnout. Statt munter zu werden, erleben wir Erschöpfung.

Ich ziehe meine gemütlichen Barfußschuhe und eine kurze Hose an und stecke eine Flasche Wasser ein. Ich gehe los – ziellos – und laufe mehrere Stunden. Nichts passiert. Und doch passiert sehr viel. Ich sehe Natur, Tiere, spüre Wärme und Kühle und esse den besten Kaiserschmarren meines Lebens auf einer zufällig ›vorbeiziehenden‹ Almhütte.

Ruhe bedeutet nicht Langeweile. Ruhe bedeutet, die Dinge einfach laufen zu lassen. Hier könnte jetzt ein Plädoyer für das Wandern starten. Das verkneife ich mir aber, denn das ist mein Weg zur Ruhe und Entspannung. Einen Weg, den jeder gehen, aber auch doof finden darf.

›Wandern‹ soll an dieser Stelle aber das Synonym für ›Weg‹ sein. Und zwar den eigenen.

Wir sind heute von dem Luxus umgeben, jegliche Urlaubsplanung in die Hände anderer zu legen. Es gibt die Urform der stationären Reisebüros, zahllose Reise-Apps oder private Reise-Ratgeber-Gruppen in den verschiedenen sozialen Medien. Wir können pauschale Erholung buchen. Durchschnittsgebilde von dem, was andere für unsere Erholung für richtig erachten. Nein, ich habe nichts gegen Pauschalreisen. Nichts gegen professionelle Reiseorganisierer. Im Gegenteil. Wir können von ihnen jedoch nicht erwarten zu wissen, wie wir Ruhe, Erholung und Entspannung finden. Es sind Angebote. Nicht mehr und nicht weniger.

Und diese Angebote sind heute so vielfältig, dass wir nicht mehr nach dem ›Mehr‹ sondern nach dem ›Weniger‹ suchen müssen. Dieses ›Weniger‹ zu finden, ist mittlerweile schwieriger als das ›Zuviel‹. Vielleicht auch, weil sich viel (!) gute Dienstleistungen zum Geldverdienen konstruieren lassen. Mit ›wenig‹ gibt es wenig zu verdienen. Und da wo Menschen einströmen, um ihren Urlaub zu verbringen, bieten viele vieles an. Logisch. Konsequent und nachvollziehbar. Die Grundsätzliche Idee von Urlaub wird so aber korrumpiert.

Für die innere Wanderung (...) ist das Wandern im Unbekannten notwendig.
(angelehnt an Albert Kitzler)

Den eigenen Weg zur Ruhe und Entspannung zu finden, vorausgesetzt, dass man das möchte, setzt voraus, dass man sich erstmal dem Nicht-Angebot aussetzt und sich umschaut.
»Was tut mir jetzt gerade gut? Worauf habe ich wirklich Lust? Was brauche ich gerade? Was nicht? Brauche ich das wirklich? Oder nur, weil mir gerade das Angebot gemacht wird?!«

Ganz langsam! Den eigenen Weg zum Urlaubsgefühl zu finden, ist gar nicht so leicht. Denn er liegt abseits der offensichtlichen Angebote oder setzt sich aus verschiedenen Versatzstücken zusammen.

Urlaub kann und darf Flucht aus dem Alltag sein. Wenn er zur Flucht vor sich selber wird, ist er aber keine Ruhezeit. Denn Flucht ist stets Hetze. Und Hetze treibt an. Urlaub ist dann Entspannung, wenn wir mit uns in Kontakt stehen können und das machen, was uns wirklich guttut. Ganz jenseits aller aktuellen Ferientrends.

Und nach dem Urlaub? Entspannung aufrechterhalten. Geht das?

Für die meisten von uns macht Urlaub prozentual nur einen kleinen Teil des Jahres aus. Wie kann man das einmal gewonnene Urlaubsgefühl also in die Zeit danach integrieren? Fragen Sie sich: Was tut mir gut? Was erlebe ich im Urlaub, das mir gut getan hat? Dahinter steckt oft etwas, das Sie überall so auch finden können.

Es ist nicht die schicke Hotelanlage, das Kreuzfahrtschiff oder die Almhütte. Es ist das Gefühl, das Sie damit verbinden. Klar, all diese Dinge helfen uns, ins Urlaubsgefühl zu finden, sie sind aber nicht das Gefühl, sondern lediglich ein Sentiments-Vehikel. Es ist das Sich-Einlassen auf etwas, das uns gut tut. Und das können wir auch im Alltag finden.
Oft ist das Abstand – Abstand zu den Dingen, die wir als Alltag definieren, uns darin aber nicht wiederfinden. Die Wäsche will gemacht, die Wohnung geputzt und der Einkauf erledigt werden. Die Kinder haben Hausaufgaben, und das Wetter ist auch mies. Im Urlaub gelingt uns dieser Abstand, weil wir innerlich STOPP sagen und alles einfach mal sein lassen.

Machen Sie das doch auch mal zu Hause. Sagen Sie STOPP und machen Sie Urlaub, indem Sie den Alltagsimpulsen nicht nachgehen. Dann sieht die Bude sonntagabends halt mal unaufgeräumt aus, und die Wäsche ist nicht gewaschen. Dafür waren Sie an der Ruhr und haben ein Buch gelesen. Sie waren mehrere Stunden rund um Witten wandern oder haben einfach toll irgendwo gefrühstückt. Urlaub muss kein Event sein. Urlaub ist der gesunde Umgang mit uns und unseren Bedürfnissen. Und das kann überall gelingen.

Ich liege auf meinem Paddelboot irgendwo auf der Ruhr und bin umgeben von Wasser und Ruhe. Das reicht.

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