Stadtmagazin Witten: Kunst und Kultur

»Macht was ihr wollt, ich bin gar nicht da!«

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Erinnerungen an unseren Freund und Kollegen Davide Bentivoglio

Meine erste Begegnung mit dem Fotografen Davide Bentivoglio? Es muss vor circa vier Jahren gewesen sein, im Winter 2017/2018. Ich hatte diese wunderbar nostalgischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von ihm in einem alten Artikel über Brunnen in Witten entdeckt und ihn im Telefonbuch ausfindig gemacht. »Sie wollen mehr davon?«, fragte er. »Dann kommen Sie vorbei und suchen sich etwas aus. Ich habe Tausende Fotos in meinem Archiv.«

Bilder und Anekdoten aus 60 Jahren Stadtgeschichte

Vielleicht hätte ich mir da schon denken können, dass es keiner dieser schnellen Termine werden würde, die sich ›mal eben‹ abhaken lassen. Was ich jedoch erlebte, als ich schließlich neben Davide (oder ›David‹, wie er gerne genannt werden wollte) in dessen Arbeitszimmer saß und mich durch seine thematisch sortierten Jpg-Dateien klickte, übertraf alles, was ich erwartet hatte. Zum einen war die Ankündigung, ›Tausende Fotos‹ zu besitzen, keineswegs übertrieben gewesen. Vor meinen Augen entfaltete sich ein imposantes Daumenkino aus locker 60 Jahren Stadtgeschichte. Zum anderen hatte der Mensch zu jedem Bild eine Anekdote auf Lager. Und das – ich gestehe – war für mich als Redakteurin wie Weihnachten und Ostern zusammen. Mit einem lächelnden und einem weinenden Auge schilderte er mir auch seine eigene Geschichte – so lebhaft, dass man sie auf der Stelle hätte verfilmen können.

Aus Norditalien ins Ruhrgebiet

Geboren 1938 in Tuenno, einem kleinen Dorf in Norditalien, absolvierte Davide zunächst eine Schneiderlehre. Verwandte lockten den jungen Mann ins Ruhrgebiet. »Sie hatten keine Kinder und wünschten sich, dass ich bei ihnen in der Gaststätte arbeiten sollte. Meine Eltern waren wenig begeistert – aber sagen Sie mal einem abenteuerlustigen 17-Jährigen, dass er diese Chance nicht ergreifen darf.« Bei seiner Ankunft am Bahnhof habe ihn angesichts der zerbombten Häuser und qualmenden Schlote erst mal der Schock gepackt. Er sei jedoch zu stolz gewesen, den ›Fehler‹ zuzugeben, und blieb. Der Beginn einer Reise quer durchs Revier mit Stationen in Bochum, Herne und Wattenscheid. Er jobbte als Kellner, trug Zeitungen aus, schuftete im Stahlwerk und in einer Ziegelei und eröffnete schließlich sogar ein eigenes Lokal. Sein hart verdientes Geld steckte er in eine Kameraausrüstung. Die Fotografie hatte ihn bereits als Kind fasziniert. Anfang der 60er-Jahre reichte er sein erstes Bild bei einer Lokalzeitung ein. Es wurde gleich am nächsten Tag veröffentlicht. »Ich war stolz wie Oskar – und umso freudiger überrascht, als mir der Postbote eine Woche später zehn Mark zustellte und es hieß: Bring uns mehr!«

»Ich wollte immer lokal arbeiten. Hier kenne ich die Menschen, die Stadt und ihre Historie«

Bei uns in Witten konnte Davide Bentivoglio endlich Fuß fassen – beruflich wie familiär. Fast vier Jahrzehnte lang fütterte er die Redaktion der Wittener Ruhr Nachrichten mit Fotomaterial. So traf er auch seine große Liebe und spätere Frau Eva, die damals als Volontärin bei der Zeitung angestellt war. Jobangebote renommierter überregionaler Medien wie dem Stern schlug er aus. »Ich wollte immer lokal arbeiten. Hier kenne ich die Menschen, die Stadt und ihre Historie.« Ein Satz, der irgendwie typisch ist, jedenfalls typisch für den Davide, wie ich ihn in einigen persönlichen Treffen und einer regen Emailkorrespondenz kennenlernen durfte: ein Naturtalent mit der Kamera, ein wandelndes Lexikon und ein Menschenfreund. Jemand, der wachen Auges durchs Leben geht und sich für seine Umwelt interessiert. Der weiß, was er kann und doch stets bescheiden im Hintergrund bleibt.

Kleine Leute und große Momente

Zu Hause in seinem wunderschönen Garten in Witten-Annen richtete er den Fokus auf Lebewesen, die sonst gerne übersehen werden: Frösche, Molche, Blindschleichen, Eidechsen, Spinnen, Schnecken, Feuersalamander, Libellen und Schmetterlinge waren beliebte Motive für den Mann, der die Naturschutzgruppe Witten (›NAWIT‹) mitbegründet hatte und in dessen Schränken sich neben fotografischem Equipment auch jede Menge Bestimmungsbücher stapelten. Auf seinen Touren durch Witten fing er nicht nur die großen, dramatischen Momente wie den Abriss der Gedächtniskirche 1967 oder das Feuer im Glaslager der DETAG 1976 ein. Sein Herz schlug auch für die kleinen Leute und ihre alltäglichen Beschäftigungen: Kinder, die auf Baustellen spielen. Jugendliche Hippies vor dem Rathaus. Marktfrauen, Müllmänner, Bauern und Bergarbeiter. Manche bemerkten nicht mal, dass sie abgelichtet wurden, andere – wie die Zigeunerfamilie, die regelmäßig ihr Lager in der Nähe aufschlug – luden den freundlichen Fotografen spontan zum Mittagessen ein. Vielleicht war es diese Unvoreingenommenheit gegenüber dem Leben in all seinen Facetten, dieses ›sich selbst zurücknehmen können‹, das seinen Bildern ihre besondere Ausdrucksstärke und Authentizität verlieh.

Zum letzten Mal ›durch die Linse‹

Im Jahr 2002 verabschiedete sich Davide in den verdienten Ruhestand. Doch seine Leidenschaft für die Fotografie ist zu Lebzeiten nie erloschen. Davon profitierten auch wir beim Stadtmagazin: In der Reihe ›Durch die Linse von Davide Bentivoglio‹ durften wir viele seiner fantastischen Aufnahmen mit den dazugehörigen Geschichten veröffentlichen. Einige der Motive zeigen wir noch einmal in diesem Beitrag. »Ein gutes Bild lässt sich nicht planen«, verriet er mir einst sein Erfolgsgeheimnis. »Man muss einfach bereit sein und im richtigen Moment den Auslöser drücken. Ich habe immer gesagt: Macht was ihr wollt, ich bin gar nicht da!« Jetzt ist Davide wirklich nicht mehr da, und das macht uns in der Redaktion und mich persönlich sehr traurig. Mit 82 Jahren starb er nach schwerer Krankheit, und doch viel zu plötzlich. Was bleibt ist der Gedanke, dass er durch seine Bilder weiterlebt – ein kleines Trostpflaster in Anbetracht der Tatsache, dass er noch so viel zu erzählen hatte. Nein, ich gehöre nicht zu denen, die an Gott oder den Himmel glauben. Ich kann es aber auch nicht ausschließen. Und wenn es demnächst da oben blitzt, denke ich, ist es vielleicht der liebe David mit seiner Kamera … auf den Spuren einer guten Geschichte.

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