Stadtmagazin Witten: In der Stadt

»Hol über!«

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Ein Beitrag von Davide Bentivoglio

Anfang des 16. Jahrhunderts war Witten nicht mal ein Marktfleckchen, denn die Marktrechte wurden der Gemeinde erst im Jahre 1675 vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm verliehen. Der Ort, unter der Herrschaft von Haus Berge, bestand damals aus einer Handvoll Bauernhöfen mit wenigen hundert Menschen, deren geistiges und kulturelles Zentrum die Johanniskirche war. Ein holpriger, schlammiger Weg führte durchs Dorf nach Süden zur Ruhr, wo eine hölzerne, altersschwache Brücke stand, ein paar hundert Meter weiter flussaufwärts als die heutige Bommeraner Brücke.

Ein Eisberg zerstörte die alte Ruhrbrücke

Dann kam der Winter 1503/04, der Überlieferung zufolge ein ›Ausnahmewinter‹, der die Ruhr vollständig zufrieren ließ. Als dann das Frühjahrshochwasser einsetzte, schwoll der Fluss an, die Eisfläche brach auf und die Eisschollen stauten und türmten sich auf zu einem Eisberg vor der hölzernen Brücke. Die ohnehin schon marode Holzkonstruktion war dieser Belastung nicht gewachsen – sie brach zusammen und wurde fortgerissen. Die Verbindung zum südlichen Ruhrufer war für Witten aber lebenswichtig, auf einen Ruhrübergang konnte man nicht verzichten, und so richtete man an der Stelle eine Fähre ein, eine sogenannte ›Schifffahrt‹. Dazu verlegte man die bestehende Fähre, die unterhalb von Steinhausen schon lange im Betrieb war, genau dorthin, wo die heutige Ruhrbrücke steht. Ein Fährbetrieb war damals ein einträgliches Geschäft: Die Rechte darauf, die sogenannte ›Fährgerechtsame‹, lagen in der Hand der jeweiligen Gerichtsherren, also bei Haus Berge, die sie wiederum an einen Fährmann verpachteten.

379 Jahre Fährbetrieb

Vielleicht betrachtete man damals die Fähre als ein Provisorium bis zum erneuten Brückenbau – stattdessen sollte nun der Ruf nach dem Fährmann »Hol über!« nicht weniger als weitere 379 Jahre lang über der Ruhr erschallen. Schon bald baute man ein Fährhaus, in dem später auch eine Wirtschaft entstand, das Wirtshaus ›Zur Schifffahrt‹: Das Haus steht heute noch am Nordufer der Ruhr, direkt neben der Brücke. Als einer der bekanntesten Wirte und Fährmänner wird ein Peter Voß genannt, der jahrzehntelang seinen Dienst tat; er starb am 10. Oktober 1793. Die Nord-Süd-Verbindung zwischen Witten und Bommern war schon immer eine viel befahrene Strecke, und der ›Fährknecht‹ kam nicht zur Ruhe – es sei denn, das Ruhrhochwasser erzwang eine Pause, was manchmal tage- oder wochenlang der Fall war. Höhepunkte waren die Markttage, erst recht zur Zeit der Wittener Jahrmärkte. Dann strömten die Menschen zu Tausenden aus den Ortschaften von nah und fern nach Witten, und dementsprechend herrschte natürlich reger Betrieb an der Ruhrfähre.

Tragisches Unglück in der Nacht der Zwiebelkirmes

So war es auch am 7. September 1838, dem ersten Freitag im September: An diesem Tag begann – und beginnt noch immer – die traditionelle größte Kirmes in Witten, die Zwiebelkirmes. Am späten Abend drängten sich Hunderte von Menschen zur Fähre, alle wollten übersetzen. Man weiß nicht, wie es geschah – vermutlich hatten betrunkene Kirmesheimkehrer die Fähre zum Schaukeln gebracht –, fest steht nur, dass die vollbeladene Fähre mitten im Fluss plötzlich bedrohlich zu schwanken begann und kenterte. Dutzende von Menschen schrien in Panik, strampelten im Fluss um ihr Leben, denn zu der Zeit konnte kaum jemand schwimmen. Einer war an Bord, der es konnte: Es war Constanz Wilhelm Hueck, der Lehrer und Bürgermeister von Wengern und Volmarstein war. Damals 51-jährig, war er mit Carl Friedrich Gethmann einer der zwei Eigentümer der Wittener Zeche Louisenglück. Constanz Wilhelm Hueck sprang beherzt in die Ruhr und rettete nacheinander fünf Menschen. Der sechste Sprung sollte sein letzter sein – er verschwand in den Fluten. Unter den entsetzten Augen der Menschenmenge am Ufer ertranken insgesamt 20 Menschen. Tags drauf fand man die Überreste von Constanz Hueck: Sein Körper hatte sich im Ufergestrüpp verfangen, und – so erzählte man – in den Armen fest umklammert hielt er ein totes Schaf. Auf dem Friedhof Wengern steht heute noch ein Gedenkstein, der an ihn erinnert.

Kapitän der ersten Schwalbe war ein echtes ›Ruhr-Kind‹

Erst im Jahre 1882 wurde schließlich die Bommeraner Brücke gebaut. Dies war aber keineswegs das Ende der uralten Fährentradition in Witten. Bis weit in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts legten sich Fährmänner und auch Frauen in die Riemen ihrer Boote: Am Südufer, beim Campingplatz Steger, ruderte Wilhelm Barth, einer der letzten Fährmänner, seine Gäste hinüber zur Wetterstraße. Außerdem betrieb er einen Bootsverleih. Am (damaligen) westlichen Ende der Stadt, an der alten Schleuse, wohnte im Schleusenwärterhaus das Ehepaar Gerd und Ruth Rosendahl, sie unterhielten ebenfalls einen Bootsverleih und machten auch Fährdienst. Am Nordufer der Ruhr, bei der alten Mühle Im Sundern, wo heute die Nachtigallbrücke fußt, hörte die geradezu legendär gewordene ›Mutter Schultz‹ auf den Ruf: »Hol über!« Sie wohnte mit ihrer Familie in dem ehemaligen Mühlengebäude und Brückenhaus. Ihr Sohn Paul, am Ruhrufer aufgewachsen, wurde davon nachhaltig geprägt: Er wurde Seemann und sogar Kapitän und schließlich Schiffseigner und Kapitän der ersten ›Schwalbe‹. Nachdem er damals das Schiff erworben und auf einem Hinterhof in Annen restauriert hatte, ließ er es zur Ruhr transportieren, und genau hier, in der kleinen Bucht, wo damals sein Elternhaus stand, ließ er es zu Wasser.

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