Stadtmagazin Witten: Dies und Das

Die simpelste Sache der Welt

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Warum es jetzt sinnvoll ist loszulaufen

Ich fand Laufen schon immer doof. Und Läuferinnen und Läufer auch. Wie sie dastehen, in ihren schicken Laufklamotten und auch während der roten Ampelphase rumtrippeln, als hätten sie einen akuten ADHS-Schub. Am Arm das Handy und um den Bauch die mobile Bar mit Getränken und irgendwelchen krassen Riegelchen.

Und das Laufen an sich. Puh. Langweilig, schon nach den ersten 500 Metern. Und dazu kommen Kurzatmigkeit und Seitenstiche. Ätzend. Selbst zu meinen sportlichsten Zeiten, am Ende des letzten Jahrtausends, habe ich das sonntägliche Jogging mit meinem Sportteam durchgehend geschwänzt.

Sommer 2019. Eine Frau joggt an mir vorbei. Ich kenne sie nicht, und sie wirkt frisch und fröhlich bei dem, was sie tut. Ich beschließe, es auch mal zu versuchen. Auch, weil ich in einer Lebenssituation bin, die Vereinsmeierei nur sehr schlecht zulässt. Und Laufen kann man einfach so.

Versuch 1 endet nach guten 600 Metern. Wusste ich’s doch. Ich beschließe, der Sache eine zweite, eine letzte Chance zu geben. Diesmal endet der Spaß nach einem knappen Kilometer. Ich gehe zurück. Aber irgendwie fühlt es sich gut an. Unter der Luftnot und den schmerzenden Muskeln lugt ein Gefühl der Frische und Entspanntheit hervor.

Seitdem laufe ich. Aus mir ist kein spätberufenes Talent geworden und meine Zeiten sind durchschnittlich. Dennoch laufe ich jede Woche zwei bis dreimal zehn Kilometer – ganz entspannt. Jetzt stehe auch ich an roten Ampeln und warte dehnend auf das grüne Startzeichen. Und es fühlt sich gut und richtig an. Wenn ich mal länger nicht laufe, vermisse ich etwas.

Laufen ist die simpelste Sache der Welt. Man braucht dazu nichts. Noch nicht mal Schuhe. O. k., die vielleicht doch … Definitiv braucht es aber keine coolen Markenklamotten oder sonstige Laufutensilien.
T-Shirt, Hose, Turnschuhe – Attacke! Zum Loslaufen reicht genau das. Später kann man dann sinnvolle Dinge addieren. Sinnvoll bedeutet für mich: Dinge, die das Laufen noch angenehmer machen. Nicht: Dinge, die mich schneller oder effizienter machen.

Daneben ist Laufen – ACHTUNG: krasse Erkenntnis! – gesundheitsfördernd. Wissenschaftlich nachlesbar wirkt es kräftigend auf den Herzmuskel, verbessert die Durchblutung der Gefäße, die das Herz mit Blut versorgen, verlängert die Phase der Herzruhe, senkt den Blutdruck und, und, und.

Das ist der eine, der physiologische Aspekt. Nun werden jedoch wenige von uns sagen, dass die Zeit der andauernden Pandemie eine unmittelbar spürbare Wirkung auf ihr Herz gehabt habe. Mag sein, wissen wir nicht. Zugenommen hat aber bei vielen Menschen der gefühlte Stress. Stress: ein anderes Wort für Anspannung. Stress: eine natürliche Reaktion auf die sich wandelnde Normalität der vergangenen zwölf Monate. Stress: erstmal eine sinnvolle Erwiderung unseres Körpers auf außergewöhnliche Situationen, in denen er uns zuruft: ACHTUNG! ACHTUNG! ATTENTION! – alle Vorbereitungen für Kampf, Flucht oder Totstellen treffen. Stress schützt uns, hilft uns – kurzfristig. Langfristig schadet er. Etwa dadurch, dass sich die Anzahl der weißen Blutkörperchen reduziert, was wiederum zu einer Schwächung der Immunabwehr führen kann. Und auch auf hormoneller Ebene geht die Post ab.

Auch wenn wir laufen, stressen wir unseren Körper. Positiv! Die ausgeschütteten Stresshormone werden sinnvoll genutzt und verarbeitet. Ich habe aus dem Mathematikunterricht meiner Schulzeit leider recht wenig mitgenommen. Aber dass Minus und Minus Plus ergibt, habe ich mir gemerkt. Und so ist’s auch hier. Körperliche Belastung in stressigen Zeiten = Entlastung, Entspannung, Erleichterung. Nennen Sie’s, wie Sie wollen. Laufen setzt der stressbedingten mentalen Anspannung tatsächlich stattfindende körperliche Anspannung entgegen. Am Ende steht Entspannung.

Dabei geht es nicht um Strecke, Geschwindigkeit, Zeit oder sonst was. Es geht um Sie. Laufen Sie los. Laufen Sie, so lange es guttut. Und dann noch ein kleines Stückchen weiter. Es darf ein bisschen wehtun. Und dann reicht es. Beim nächsten Mal tut’s wieder weh. Dann aber vielleicht schon nach einem kleinen Stück Strecke mehr. Unser Körper ist zum Laufen konzipiert, wir brauchen also keine Angst zu haben, ihn entsprechend zu nutzen. Hören Sie auf sich und Ihren Körper. Haben Sie Bedenken? Dann fragen Sie vorher vorsichtshalber Ihren Arzt und lassen sich Ihre Loslauffähigkeit bescheinigen. Dann laufen Sie los und schauen was passiert. Erwarten Sie keine Wunder, aber erwarten Sie eine gute Zeit für sich.

Laufen ist Achtsamkeit und Meditation. Probieren Sie es aus. Nach einem richtigen Scheißtag Schuhe an und los. Nach einer kurzen Zeit der körperlichen Belastung ist kein Platz mehr für störende Gedanken. Wir können nicht gleichzeitig japsen und mies drauf sein – höchstens, weil wir gerade japsen, nicht aber wegen Dingen aus der Vergangenheit oder der Zukunft. Wer läuft ist im Hier und Jetzt. Ganz einfach, ohne jahrelangen Aufenthalt in Tempel oder Kloster.

Für mich hat dieser Aspekt mittlerweile sogar die Regie übernommen. Ich freue mich auf meine Läufe vor allem wegen des Potenzials einfach mal gar nicht zu denken. Ich konzentriere mich auf den nächsten Schritt oder die nächsten paar Meter. Ich achte auf meine Atmung und mein Körpergefühl. Hört sich alles romantischer an als es ist. Körpergefühl ist manchmal auch gleichzusetzen mit Schmerz und Atmung mit Atemnot. Aber: Es ist immer gut. Ich blicke auf keinen meiner bisherigen Läufe negativ zurück.
In der jetzigen Zeit ist Laufen eine kostenlose und jederzeit mögliche Form für sich selber zu sorgen. Eine Therapie im ursprünglichen Sinne des Wortes, das im griechischen für ›Dienst, Pflege‹ oder ›Heilung‹ stehen kann. Laufen ist Dienst an sich selber. Und davon können wir gerade eine Menge gebrauchen.

Laufen Sie los. Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei, und falls Sie möchten, teilen
Sie Ihre Laufgeschichte gerne mit mir: chpalmert [at] gmail.com

Quellen für diesen Text:

Dishman 1985 / Blumenthal et al. 1999/ Suh et al. 2002
Roth, Bachtler, & Fillingim 1990
Willenheimer et al. 2001 / Yanagibori & Shirai 2002
Nieman, D.C.: Exercise and resistance to infection.
Can J. Physiol Pharmacol, 76 (5) 1998, 573-580.
Bowles & Wamhoff 2003
Christopher McDougall, Born to run

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