Stadtmagazin Witten: In der Stadt

Die letzten Arbeitspferde in Witten

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Von Davide Bentivoglio

Eine Pferdestärke – kurz PS – kennt wohl jeder als Maßeinheit im technischen Bereich. Es gab aber eine Zeit, als die Pferdestärke noch wörtlich zu nehmen war, denn sie stammte von einem leibhaftigen Lebewesen: dem Ross. Paradoxerweise wurde die Maßeinheit ›PS‹ genau dann eingeführt, als man begann, die Tiere durch Maschinen zu ersetzen.

Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren kräftige, leistungsstarke Pferde auf den hiesigen Bauernhöfen unentbehrlich, denn Witten war ursprünglich ein Bauerndorf. Durch die reichlichen Kohlevorkommen setzte die Industrialisierung zwar früh ein, sodass sich aus der bäuerlichen Siedlung schon im 19. Jahrhundert rasant eine Industriestadt entwickelte. Doch bis Mitte des 20. Jahrhunderts blieben Reste der einstigen Strukturen parallel bestehen.

Der Wittener Viehmarkt war einer der wichtigsten seiner Art

Laut dem statistischen Jahrbuch im Stadtarchiv ergab die Viehzählung vom 02.12.1955 folgende Ergebnisse für Witten (damaliges Stadtgebiet ohne Herbede): 201 Pferde, 1.016 Rinder, 433 Schafe, 2.726 Schweine,  265 Ziegen, 48.755 Hühner, 720 Gänse, 1.166 Enten und 330 Bienenstöcke. Zum Vergleich kann man die Stückzahl der auf dem Wittener Viehmarkt gehandelten Tiere im Jahre 1871 im Buch ›Geschichte der Stadt Witten‹ von Gerrit Haren erfahren: 1.190 Pferde, 3.660 Kühe, 1.500 Schafe, 7.800 Schweine und 12 Esel. Der Viehmarkt fand zweimal jährlich im Frühjahr und im Herbst am Crengeldanz (beiderseits der heutigen Hörder Straße) statt. Wie der Wittener Kornmarkt galt er als einer der größten und wichtigsten seiner Art in ganz Westfalen.

Ein Pferd kostete 600 bis 800 Mark

Im Buch ›Straßen – Wege – Plätze‹ von Paul Brandenburg und Karl-Heinz Hildebrand ist von einem weiteren, ebenfalls bedeutenden Markt in Witten zu lesen: Er wurde mitten in der Stadt veranstaltet, und der Straßenname ›Am Viehmarkt‹ erinnert noch daran. Der eigentliche ehemalige Viehmarkt ist dagegen fast vollständig überbaut, hier befinden sich die Berufsschule, die Otto-Schott-Realschule, die Otto-Schott-Sporthalle und ein Teil des Husemann-Sportplatzes. In einem Zeitungbericht vom 14.7.1905 steht, wie viel Vieh am Vortage aufgetrieben und für wie viel Geld es gehandelt wurde. Demnach waren es 160 Pferde für jeweils 600 bis 800 Mark. Die 20 milchgebenden Kühe kosteten zwischen 270 und 300 Mark, tragende Kühe zwischen 210 und 250 Mark. Weiterhin standen 769 überjährige Schweine für je 80 bis 90 Mark im Angebot. Achtmonatige kosteten 50 bis 60 Mark, und Sechswöchige gab es schon für 30 bis 40 Mark. Der Handel an dem betreffenden Markttag wurde als gut bezeichnet.

Verhältnis zwischen Mensch und Ross: pragmatisch und unsentimental

Schon während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lösten Motoren nach und nach die lebendigen Pferdestärken ab, bis sich in den 1950er-/1960er-Jahren die Vollmechanisierung durchgesetzt hatte. Einst gab es auf einem durchschnittlichen Bauernhof zwei bis vier Arbeitspferde, meistens schwere rheinische Kaltblutstuten, die sowohl für die Feldarbeit als auch für die Zucht da waren. Sie arbeiteten auf dem Feld, wurden aber ebenso für alle Transporte eingesetzt. Ihre Arbeitszeit war ähnlich wie die ihrer Besitzer: von früh bis spät. Wann eine Pause oder der Feierabend fällig war, wussten die Tiere genau. Der Bauer sagte: »Sie haben die Uhr im Bauch.« Das Verhältnis zwischen Mensch und Ross war eher pragmatisch und unsentimental. Man ›benutzte‹ die Pferde für die Arbeit. Selbstverständlich wurden sie pfleglich behandelt, denn sie waren ja ein lebenswichtiges Kapital. Man war auf sie angewiesen und achtete darauf, dass sie gesund blieben – ›Schmusetierchen‹ waren sie jedoch nicht.

Das Bild des kraftvollen Pferdegespanns gehörte zur Vergangenheit

Ich erinnere mich: Als ich Mitte der 1960er-Jahre in Witten begann, Strukturen im Bild festzuhalten und zu archivieren, zeichnete es sich bereits ab, dass die Pferde dabei waren, für immer aus der Landwirtschaft zu verschwinden. Es gab schon damals ungleich viel mehr Reit- als Arbeitspferde. Aber einige waren noch da, und sie wurden auch noch eingesetzt. Doch die Tiere verrichteten keine schwere Feldarbeit mehr. Das klassische Bild des kraftvollen Pferdegespanns vor dem Pflug oder Mähdrescher gehörte endgültig zur Vergangenheit. ›Die Letzten ihres Standes‹ wurden vor ein leichtes Arbeitsgerät gespannt. Hier und da gab es noch einen alten Klepper, der auf dem Hof seinen Ruhestand genießen durfte – und das war's.

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