»Ein gutes Bild lässt sich nicht stellen«
Durch die Linse von Davide Bentivoglio
Ruhrgebiet 1956: Die Spuren von Krieg und Wiederaufbau prägen das Bild. Zerbombte Häuser und dampfende Schlote, so weit das Auge reicht. »Als ich nach langer Anreise aus Italien in Bochum aus dem Zug stieg, war ich angesichts der Kriegsruinen erst einmal geschockt«, berichtet Davide Bentivoglio. »Und diese Luft: Aus unseren Schornsteinen hat es besser gerochen.« Er schmunzelt: »Ich dachte, ›bist du eigentlich bekloppt?‹, war aber zu stolz, meinen ›Fehler‹ zuzugeben, wollte das unbedingt durchziehen.«
Aus Norditalien ins Revier
Zum Glück für uns Wittener! Inzwischen ist die Stadt an der Ruhr seine Heimat, und selbst wer hierzulande noch nichts von Davide Bentivoglio gehört hat, dürfte bisweilen seinen Bilder begegnet sein: Fast vier Jahrzehnte lang fütterte der ›Lokalfotograf mit der Hasselblad‹ die Wittener Ruhr Nachrichten mit Fotomaterial. Dabei hätte alles ganz anders kommen können: Geboren 1938 in Tuenno, einem kleinen Dorf in Norditalien, absolvierte Davide nämlich zunächst eine Schneiderlehre. Verwandte aus Bochum lockten den jungen Mann nach Westdeutschland. »Sie hatten keine Kinder und wünschten sich, dass ich bei ihnen in der Gaststätte arbeiten sollte. Meine Eltern waren wenig begeistert – aber sagen Sie mal einem abenteuerlustigen 17-Jährigen, dass er diese Chance nicht ergreifen darf.«
Erstes Foto für zehn Mark verkauft
Der Beginn einer aufregenden und oft auch steinigen Reise quer durchs Revier: »Ich habe in Bochum, Herne und Wattenscheid gewohnt, als Kellner gejobbt, Zeitungen ausgetragen, im Stahlwerk und in einer Ziegelei gearbeitet und schließlich sogar ein eigenes Lokal eröffnet.« Die Fotografie hatte den jungen Italiener bereits als Kind fasziniert, so erwarb er von seinem ersten Gesparten eine – recht bescheidene – Ausrüstung: »Nichts weiter als einen Fotoapparat und ein Blitzgerät, womit ich begann, meine Umwelt zu knipsen.« Die Ergebnisse konnten sich schon damals sehen lassen: Als Davide sein erstes Bild Anfang der 60er-Jahre bei einer Lokalzeitung einreichte, wurde es gleich am nächsten Tag veröffentlicht. »Ich war stolz wie Oskar – und umso freudiger überrascht, als mir der Postbote eine Woche später zehn Mark zustellte und es von Seiten der Redaktion hieß: ›Bring uns mehr!‹«
Mit dem Fahrrad nach Witten
Davide Bentivoglio brachte mehr. Im Sommer ’63 dann die entscheidende Wende: »Ein freier Journalist aus Wattenscheid war damals als Gerichtsreporter im ganzen Polizeibezirk Bochum unterwegs, ich machte die Fotos. Eines Tages wurde mir während der Verhandlung das Auto geklaut. Ich musste mit dem Fahrrad sämtliche Lokalredaktionen in Bochum, Wattenscheid, Herne, Wanne-Eickel und Witten abklappern, um die Manuskripte samt Bildmaterial zu überbringen. So kam ich zu den Ruhr Nachrichten Witten, wo sie gerade einen Fotografen suchten.« Hier konnte Davide Bentivoglio nicht nur beruflich Fuß fassen, er begegnete auch seiner späteren Frau Eva, die als Volontärin bei der Zeitung angestellt war. Jobangebote renommierter Medien wie dem Stern schlug er aus. »Ich wollte immer lokal arbeiten! Hier kenne ich die Menschen, die Stadt und ihre Geschichte!«
»Schussbereit wie ein Cowboy«
Ob bei Verkehrsunfällen, Hochwasser oder Feuersbrünsten, beim Abriss der Gedächtniskirche, bei der Eberkörung auf dem Bauernhof oder beim Pressetermin anlässlich eines 90. Geburtstags im Altenheim: Davide Bentivoglio war immer und überall dabei – und blieb doch stets im Hintergrund. »Ich habe immer gesagt: ›Macht was ihr wollt, ich bin gar nicht da!‹« Er lächelt: »Ein gutes Bild lässt sich nicht stellen. Ich trug meine Kamera durchgehend um den Hals, und mein Auge war so geschult, dass ich in jeder Situation wusste, welche Blende und Verschlusszeit ich gegebenenfalls bräuchte. Also habe ich das Gerät ununterbrochen richtig eingestellt, war ständig ›schussbereit‹ wie ein Cowboy in einem Western. Und wenn es sich ergab, habe ich eben abgedrückt. Solche Bilder kann man nicht planen, man muss im richtigen Moment da sein und den Auslöser betätigen.«
Momente aus 60 Jahren Stadtgeschichte
Im Jahr 2002 ging Davide Bentivoglio in den verdienten Ruhestand. Doch seine Fotos erinnern bis heute an die schönsten, spannendsten und berührendsten Momente aus fast 60 Jahren Stadtgeschichte. Diesen Momenten wollen wir uns in den nächsten Ausgaben im Rahmen einer kleinen Reihe widmen: Witten durch die Linse von Davide Bentivoglio!
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