Stadtmagazin Lünen: Kunst und Kultur

Lokalen Mythen auf der Spur

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Geschichten aus der ›Texxtwerkstatt‹

›Vergangene Zeiten vergehen nicht – sie fließen. Und manchmal spülen sie Menschen, Orte und Erinnerungen an die Oberfläche …‹

Echte Settings, erfundene Schicksale

Schon der Klappentext der neuen Anthologie ›In den Flüssen der Zeit‹ des Ventura Verlags klingt poetisch und märchenhaft. Wer die Seiten aufschlägt, taucht ab in eine magisch anmutende Welt mit dunklen Wäldern, Burgen, Hexen und Kohlestaub. Manche Beschreibungen könnten dem ortskundigen Leser aber auch bekannt vorkommen. In atmosphärischen Kurzgeschichten verweben die Autorinnen und Autoren aus Lünen und Werne Historisches mit Fantastischem, Heimisches mit Übernatürlichem und echte Settings mit erfundenen Schicksalen. Wir wollten die kreativen Köpfe hinter dem Sammelband kennenlernen. Und stießen auf die ›Texxtwerkstatt‹ – das doppelte X ist kein Vertipper!

Vom Schreibkurs zur Wohnzimmerliteratur

Alles begann mit einem Schreibkurs, den Verleger Magnus See in der Familien- und Bildungsstätte Werne leitete und der durch Corona zum Erliegen kam. Was tun, wenn die Welt stillsteht, aber eigene Ideen nur so purzeln? Ende 2020 taten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer privat zusammen. Seither treffen sie sich einmal im Monat bei Initiatorin Heike Auel im Wohnzimmer. Die Jüngste ist Anfang 20, der Älteste über 70. Sie alle verbindet die Liebe zur Literatur – und der Drang, eigene Texte zu Papier zu bringen. »Mittlerweile sind wir keine Schreibgruppe mehr, sondern eine Textwerkstatt – und deswegen nennen wir uns auch so«, erzählt Autor Manfred Kindler. »Wir kennen das Handwerk des Schreibens, haben die Techniken verinnerlicht und sind auf einem guten Level angekommen.«

Short Storys in drei Bänden

Das erste größere Projekt der Truppe: ›Literatur zum Wochenende‹. »Ein Jahr lang wurde jeden Freitag eine neue Short Story auf meiner Verlagsseite präsentiert«, berichtet Magnus See. Daraus entstand 2022 die Anthologie ›Zimtsonntage‹, bei der Heike Auel als Herausgeberin fungierte. 2024 folgte mit ›Herzhitze und Schokoladentage‹ der erste Liebesgeschichtenband, der jemals im Ventura Verlag veröffentlicht wurde. Das Besondere: Jede Geschichte dreht sich immer auch um das Thema Genuss – inklusive der Rezepte, die für das Liebesglück der Heldinnen und Helden von Bedeutung sind. Für das dritte Buch ›In den Flüssen der Zeit‹ begaben sich die Autorinnen und Autoren schließlich auf die Spur lokaler Mythen und Legenden.

Spuk im Cappenberger Wald

Eine dieser Legenden ist die Kohuesholz-Sage, über die Autorin Daniela Sicken bei ihren Nachforschungen zum Cappenberger Forst stolperte. Wir wollen nicht zu viel verraten, aber es geht um einen grausamen Bauern, der die gerechte Strafe für sein gottloses Leben erhielt und im Winter noch immer durch das Wäldchen spukt … »Meine Geschichte ›Auf immer und ewig‹ ist eine Mischung aus eigenen Erlebnissen bei Baumbestattungen, den Erfahrungen mit meinen Kindern in der Waldschule Cappenberg und der Kohuesholz-Sage mit einem Schuss Humor und Fantasie«, so die Lünerin, die neben dem Schreiben auch als freie Erzählerin durch die Region tourt.

Unter Tage

Ihre zweite Geschichte, ›Das Licht der Katze‹, spielt auf der Zeche Radbod in Hamm, wo ihr Großvater einst als Wettersteiger tätig war. »Zuerst gab es eine Erzählversion, die ich in Andenken an meinen Großvater frei erfunden hatte. Im letzten Jahr führte ich anlässlich unseres Buchprojektes weitere Recherchen durch und erfuhr von meiner Mutter mehr über das Leben bzw. den Umgang mit den Zwangsarbeitern auf der Zeche: Sie erzählte mir, dass ein Zwangsarbeiter ihr als Tochter des Steigers ab und zu kleine Figuren aus Schießdraht schenkte. Die Geschichte hat mich der Kindheit meiner Mutter, aber auch meinem mir kaum bekannten Großvater nähergebracht.«

Von Mönchen und Rittern

Manfred Kindler beschäftigte sich für seine Texte mit den Geheimnissen, die sich rund um das Kapuzinerkloster in Werne ranken. »An der Lippe auf einem Feld zwischen Lünen und Werne nahe der Rochus-Kapelle befand sich früher ein Siechenhaus, in dem Lepra- und Pestkranke von Kapuzinermönchen gepflegt wurden«, erklärt er. »Davon handelt ›Die Erbschaft‹.« Seine zweite Erzählung ›Die Rüstung‹ bindet das ausgedachte Schicksal eines fiktiven Ritters in die wahre Episode einer Belagerung im Jahr 1622 ein.

Spielorte in Lünen gesucht!

Die Geschichten aus der Texxtwerkstatt gibt es nicht nur auf Papier. Alle drei Bücher wurden inzwischen von der Blindenhörbücherei in Münster eingesprochen und können dort von Menschen mit Sehbehinderung als Hörbuch ausgeliehen werden. Auch veranstalten die Mitglieder regelmäßig Lesungen. In fünf Jahren wurden über 20 Events an unterschiedlichen Locations organisiert, von Buchhandlungen und Stadtbibliotheken über Kirchen und Altenheime bis hin zu ungewöhnlichen Orten wie der Ökostation oder dem Weindepot. Die Planungen für 2026 sind in vollem Gange. Gesucht werden weiterhin Spielorte in Lünen und Umgebung. »Bei jeder Lesung gibt es ein Quiz – Hauptgewinn ist eine Wohnzimmerlesung«, verrät Manfred Kindler. Und auch die nächste Veröffentlichung wird schon anvisiert: eine Krimisammlung, in der jeder Kurzkrimi den passenden Drink gleich mitserviert. Erscheinen wird das Ganze natürlich wieder im Ventura Verlag – aber nicht vor 2027.

100 Bücher in 20 Jahren

Demnächst tritt Verleger Magnus See erst einmal sein wohlverdientes Sabbatjahr an – so der Vorsatz. In 20 Jahren hat er 100 Bücher herausgebracht und unzählige Lesungen organisiert. Seine Veranstaltungsreihe ›Blutige Lippe‹, das regionale Äquivalent zu Mord am Hellweg, ist weit bekannt und wartet mit großen Namen auf. »Solche idealistischen Projekte beanspruchen aber auch unendlich viele Ressourcen: Man muss Spielorte finden, sich vernetzen, Werbung machen, die Finanzierung sichern«, verrät Magnus See. »Das bedeutet im Klartext: Ich investiere jedes Mal viel Geld, von dem ich in den Urlaub fahren könnte, bzw. Zeit, die mir für meine eigenen Buchideen fehlt.« Das freie Jahr will er nutzen, um seinen vielfach angekündigten Coming-of-Age-Roman abzuschließen. 2027 heißt es dann wieder voll durchstarten, wenn der Verlag sein 20. Jubiläum feiert. Und vielleicht gibt es bis dahin ja auch etwas Neues aus der Texxtwerkstatt.

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