Ein Schelm gegen den Kriegswahnsinn
Schauspiel zwischen Grauen und Groteske
Verwüstung, Vertreibung, Vernichtung – diese Themen beherrschen die Nachrichten nicht erst seit gestern. Im Laufe der Geschichte haben Menschen immer wieder ums Überleben gekämpft. Triggerwarnung: Krieg war schon damals schlimmer als jeder Horrorfilm.
Theater und Tanz rund um St. Georg
Mitte August nähert sich ein Theaterwochenende in und an der Stadtkirche St. Georg der düsteren Thematik mit künstlerischer Wucht und tänzerischer Leichtigkeit. Zwei Stücke beleuchten das Grauen und seine Folgen aus unterschiedlichen Perspektiven: Das in Lünen bekannte artEnsemble Theater inszeniert ›Simplicissimus‹, den barocken Schelmenroman von Grimmelshausen, als packendes Schauspiel in der Kirche. Ergänzt wird das Programm durch das Tanztheater ›Hinter Gottes Füßen‹, das die Fluchtgeschichte eines Mannes vor dem Hintergrund des Bosnienkriegs als bewegende Open-Air-Performance im Kirchhof erzählt. Karten sind einzeln oder als Kombi-Ticket beim Kulturbüro Lünen erhältlich.
Mit wissenschaftlichem Unterbau
Eine besondere Rolle spielt die historische Kulisse der mittelalterlichen Stadtkirche, die schon viele Krisen überstanden hat und bei den Vorstellungen zur Bühne wird. »Wie jedes Jahr werden die Bänke rausgestellt, sodass wir im Kirchenschiff spielen können, bei freier Bestuhlung ringsum«, erzählen Susanne Hocke und Jürgen Larys vom artEnsemble Theater. Beide gestalten das kulturelle Leben der Lippestadt seit vielen Jahren aktiv mit: Sie ist Leiterin des Festivals Junges Theater Lünen, er Vorsitzender des Lüner Theatervereins. Seit 2006 treten sie deutschlandweit als Duo auf. Allein in Lünen haben sie in dieser Zeit an die 60 Auftritte absolviert. Ihre Spezialität: Stücke mit Tiefgang und wissenschaftlichem Unterbau. Für den ›Simplicissimus‹ lieferte Dr. Jost Eickmeyer von der Grimmelshausen-Gesellschaft das fachliche Fundament.
Gratwanderung zwischen Komödie und Tragödie
»Wir standen vor der Frage: Wie will man dieses komplexe Werk auf die Bühne bringen?«, berichtet Jürgen Larys. Seine Bühnenfassung nimmt die Zuschauenden mit auf eine zweistündige Zeitreise durch die Epoche des Dreißigjährigen Krieges. »Natürlich nicht auf Mittelhochdeutsch«, versichert er mit einem Augenzwinkern. Beide SchauspielerInnen schlüpfen wechselweise in die Rollen von Erzähler, Romanheld und Nebenfiguren und erzählen die wesentlichen Romanpassagen in fünf Akten nach. Was auf den ersten Blick wie schwere Kost erscheint, entpuppt sich als fesselnde Gratwanderung zwischen Epik und Dramatik, Komödie und Tragödie, Sprache und Musik – farbig illuminiert und atmosphärisch in Szene gesetzt.
»Vom Opfer zum Täter«
Die Geschichte? Der junge Simplicius, anfangs naiv wie ein Kind, wird zum Überlebenskünstler in einer vom Krieg zerschundenen Welt. Das Werk zeigt seine Wandlung vom einfältigen Bauernjungen zum taktierenden Hofnarren, Wegelagerer und Banditen – vom Opfer zum Täter. Dabei changiert die Aufführung zwischen bitterem Ernst, schwarzem Humor und absurden Momenten. »Für die meisten ist der Dreißigjährige Krieg weit weg«, sagt Jürgen Larys. »Aber die Relevanz für heute stellt sich automatisch ein: Dieser Krieg war ein epochales Trauma – religiös begründet, aber von den verschiedenen Kriegsparteien oft politisch motiviert. Wer genau hinsieht, kann erschreckende Parallelen zu aktuellen Ereignissen erkennen.«
»Wie ein Livebericht aus Butscha«
Susanne Hocke ergänzt: »Gerade in der Ukraine hören wir ja immer wieder von der archaischen Brutalität der Kriegsführung, die bereits für den Dreißigjährigen Krieg charakteristisch war und auch bei Grimmelshausen beschrieben wird: durchs Dorf ziehen, plündern, foltern, vergewaltigen, abschlachten – manche Szenen lesen sich wie ein Livebericht aus Butscha.« Doch bei aller Grausamkeit ist ›Simplicissimus‹ auch ein Schelmenroman, der den erschütternden Stoff mit satirischen, grotesken und utopischen Elementen würzt. Der Held wird zur Identifikationsfigur, seine naive Weltsicht zum Filter, durch den das Unfassbare fassbar wird. »Man wird emotional gepackt, kann das Ganze gleichzeitig aber auch reflektieren und analysieren«, so Susanne Hocke. »Deshalb liebe ich dieses Stück – es verbindet Tiefe mit augenzwinkerndem Humor und derben Scherzen.«
Friedenssehnsucht schimmert blau
Darüber hinaus ist die Bühnenversion des ›Simplicissimus‹ auch ein sinnliches Erlebnis. Farbspiele betonen Stimmungen: Kriegsszenen leuchten in bedrohlichem Rot, Naturlandschaften entfalten sich in atmosphärischen Grüntönen, Friedenssehnsucht schimmert in sanftem Blau. Die DarstellerInnen singen und greifen live zu historischen Instrumenten – etwa der Oud, einer arabischen Laute, und dem Hümmelchen, einem kleinen Dudelsack. »Letzteres habe ich extra dafür gelernt«, verrät Susanne Hocke. Der Klang dieser alten Instrumente verstärkt die emotionale Wirkung und zieht das Publikum tief in die Welt des Epos.
»Im Krieg sind wir alle gleich klein«
Und die Botschaft? »Nie wieder Krieg!« Der ›Simplicissimus‹ mag knapp vierhundert Jahre auf dem Buckel haben – aber er ist alles andere als ein staubiger Klassiker. Er ist vielmehr ein Spiegel, der offenbart, wie Menschen in Extremsituationen handeln. Nach der Vorstellung lädt das Ensemble zum Gespräch: Bei Getränken haben die Gäste Gelegenheit, sich auszutauschen und ihre Gedanken zu teilen. »Diese Auseinandersetzung ist wichtig, um zu verstehen, was Krieg ist – und was die Menschen durchleben, die zu uns kommen«, betont Jürgen Larys. Susanne Hocke ergänzt: »Und die ganz Armen haben oft gar keine Chance zu fliehen. Im Krieg sind wir alle gleich klein – aber die Schwächsten leiden am meisten.«
›Hinter Gottes Füßen‹ © Foto: Karina Ter
Ein Mann in der Fremde
Als der Bürgerkrieg in den 90er-Jahren Bosnien heimsucht, flieht der junge Aleksandar mit seinen Eltern nach Essen. Rastlos neugierig erobert er sich das fremde Deutschland und erzählt die irrwitzigen Geschichten von damals, von der großen Familie und den kuriosen Begebenheiten im kleinen Višegrad. Aleksandar fabuliert sich die Angst weg und ›die Zeit, als alles gut war‹ wieder herbei.
Angelehnt an den Roman ›Wie der Soldat das Grammofon repariert‹ von Saša Stanišić inszeniert die Choreographin Jelena Ivanovic die bewegende Geschichte eines Menschen in der Fremde. Das Tanztheaterstück ›Hinter Gottes Füßen‹ findet am 17. August unter freiem Himmel auf dem Platz hinter der Ev. Stadtkirche St. Georg. Bei Regen wird die Veranstaltung ins Gemeindehaus verlegt.
Termine auf einen Blick
16.08., 20 Uhr · Ev. Stadtkirche St. Georg
artEnsemble Theater: ›Simplicissimus‹
17.08., 17 Uhr · Platz hinter St. Georg
Tanztheater: ›Hinter Gottes Füßen‹
Weitere Infos und Tickets: www.kulturbuero-luenen.de
