Stadtmagazin Lünen: Gesundheit und Wellness

»Hinter jeder Sucht steht eine Geschichte«

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Zu Besuch bei der Suchtberatung am Roggenmarkt

Ob auf Partys, im Fußballstadion oder beim Geburtstagsessen von Tante Anneliese: Alkohol ist allgegenwärtig. Dabei werden die Risiken gerne verdrängt. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind hierzulande 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig. Rund 7,9 Millionen Menschen konsumieren Bier, Wein und Co. in gesundheitlich bedenklicher Form. Woran liegt es, dass manche süchtig werden – und andere nicht? Kann ›ein Gläschen in Ehren‹ wirklich so gefährlich sein? Welche Hilfsangebote gibt es? Wir sprachen mit zwei Experten, die bei ihrer Arbeit tagtäglich mit solchen und ähnlichen Fragen konfrontiert werden. Diplom-Sozialarbeiter Matthias Hundt ist als Präventionsbeauftragter der gemeinnützigen Gesellschaft für Suchthilfe im Kreis Unna tätig. Sein Kollege Frederik Jan Krabbe kümmert sich in der Beratungsstelle im Gesundheitshaus am Roggenmarkt um Betroffene.

Ein Glas Rotwein sei gut fürs Herz, heißt es oft. Wie passt diese verbreitete Annahme zu den oben genannten Zahlen?

Matthias Hundt: Fakt ist: Es gibt keinen risikofreien Konsum. Alkohol ist und bleibt ein hochpotentes gesundheitsschädliches Nervengift. Hinzu kommt, dass der Rausch enthemmtes Verhalten und Gewaltverbrechen fördert. Man wird eher zum Opfer. Jährlich sterben 74.000 Menschen in der BRD an den direkten oder indirekten Folgen von Alkohol – also zum Beispiel durch Krebserkrankungen und Organschäden. Dazu kommen alkoholbedingte Verkehrsunfälle, Gewaltdelikte, ungewollte Schwangerschaften und sexuelle Übergriffe. Besonders tragisch: Jedes Jahr kommen durchschnittlich 2.500 Neugeborene zur Welt, die durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft chronisch krank sind.
Frederik Jan Krabbe: Vor diesem Hintergrund ist es einfach nur skurril, dass beaufsichtigtes Trinken in Deutschland schon ab 14 Jahren erlaubt ist. Und es wird noch absurder, wenn man weiß, dass ein junger Stoffwechsel gar nicht in der Lage ist, Alkohol abzubauen. Das dafür benötigte Enzym bildet sich erst ab der Pubertät bis zu einem Alter von 21 Jahren heran. Dennoch wird es vom Gesetzgeber toleriert, wenn Jugendliche zur Flasche greifen. Dahinter steht eine mächtige Industrie mit einer starken Lobby.

Klingt alles ziemlich düster … Gibt es einen Hoffnungsschimmer?

Frederik Jan Krabbe: Die gute Nachricht ist: Deutschland hat eines der am besten ausdifferenzierten Suchthilfesysteme weltweit, mit niederschwelligen Beratungsangeboten, kassenfinanzierten klinischen Therapiemöglichkeiten und Selbsthilfegruppen.
Herr Hundt: Sie arbeiten als Präventionsexperte viel an Schulen. Wie empfänglich sind die jungen Leute für Ihre Botschaften?
Matthias Hundt: Den Rückmeldungen zufolge scheint es ganz gut anzukommen, wenn ich mit Schülerinnen und Schülern, LehrerInnen aber auch mit Eltern zu der Thematik arbeite. Beliebt ist zum Beispiel ein Parcours, bei dem Aufgaben mit einer Rauschbrille bewältigt werden müssen. Dabei merken die Schülerinnen und Schüler recht schnell, dass Stolpern und Herumtorkeln alles andere als cool aussieht bzw. dass dieser Kontrollverlust mitunter sehr entwürdigend ist. Darüber hinaus organisiere ich Schülervorstellungen des Beate Albrecht Theaters zum Thema Alkoholmissbrauch. Das Stück ›Alkohölle‹ ist deshalb so eindrucksvoll, weil es Infos mit Emotionen verknüpft. Unser Ziel ist es, die jungen Leute für die Gefahren legaler Drogen zu sensibilisieren und ihnen eine kritische Haltung zu vermitteln: Nur weil der Rapper XY bei TikTok Werbung für Schnaps oder E-Zigaretten macht, ist es nicht unbedenklich. Ganz im Gegenteil! Denn es gibt ’ne verdammt dunkle Seite! Wir verbieten niemandem, zu trinken. Aber sie sollen die Wahl haben und sich der Risiken bewusst sein.

Was ist noch ›normaler‹ Konsum und wo fängt die Sucht an? Wann muss ich mir Sorgen machen? Und ab welchem Punkt sollte man sich professionelle Hilfe suchen?

Frederik Jan Krabbe: Sobald Sie sich diese Fragen stellen! Grundsätzlich möchten wir erwähnen, dass wir niemandem sein Feierabendbier missgönnen. Konsum darf aber niemals verharmlost oder gar romantisiert werden. Das ›gesunde Glas Rotwein‹ ist ein Mythos der Alkoholindustrie. Die Beratungsstelle am Roggenmarkt bietet immer dienstags von 11 bis 12 Uhr eine offene Sprechstunde an. Hier kann sich jeder melden, der nicht weiterweiß, egal ob Betroffener oder Angehöriger. Am besten rufen Sie vorher durch, damit wir die Zuständigkeit klären und optimal helfen können.
Matthias Hundt: Besorgten Angehörigen kann ich nur raten, dass sie auf ihr Bauchgefühl hören und die Sache ansprechen sollten. Manchmal braucht es einen Anstoß von außen, um etwas ändern zu wollen, selbst wenn es in dem Moment unangenehm ist.

Der Wunsch zur Veränderung ist ein erster Schritt. Doch er reicht nicht immer aus, um den Teufelskreis zu durchbrechen, was für Außenstehende teils schwer zu begreifen ist. Was würden Sie jemandem antworten, der behauptet, Betroffene seien ›selbst schuld‹?

Matthias Hundt: Alkoholismus ist eine diagnostizierbare Erkrankung, deren Ausbruch von diversen Faktoren abhängt. In unserer Gesellschaft ist es immer noch ein Tabu, damit offener umzugehen, und leider wird den Erkrankten oftmals eine ›eigene Schuld‹ daran zugewiesen. Die gibt es aber nicht!
Frederik Jan Krabbe: Die Anfälligkeit für Alkoholabhängigkeit steigt mit psychischen Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen oder ADHS. Ich betreue viele Klientinnen mit Posttraumatischer Belastungsstörung, die Missbrauchserfahrungen gemacht oder Verluste erlitten haben. Hinter jeder Sucht steht eine Geschichte, ein krasses Schicksal. So etwas sucht man sich nicht aus. Und es kann jeden treffen kann, unabhängig von Status, Bildung oder Beruf. Tatsache ist ja auch, dass jeder jemanden kennt, der seinen Alkoholkonsum übertreibt oder um den man sich Sorgen macht.

Wie unterstützen Sie Menschen, die alkoholkrank sind?

Frederik Jan Krabbe: Wir informieren, beraten und begleiten, das alles kostenfrei und vertraulich, in einem geschützten Rahmen und ohne Tabuisierung. Für die Betroffenen ist es meist ein erlösendes Gefühl, wenn sie endlich offen sprechen können. Viele haben ihren Zustand gegenüber Familie und Freunden lange verheimlicht, was über Jahre einen hohen Druck aufbaut. Wenn sie dann bei uns sitzen, sieht man ihnen die Erleichterung merklich an: Die Schultern entspannen, Tränen fließen. Des Weiteren vermitteln wir Entzug und Entwöhnung und übernehmen im Anschluss auch die Nachsorge in Einzelgesprächen und Gruppenangeboten. Denn wer einmal abhängig ist, den wird das Thema ein Leben lang begleiten. Es ist eine extreme Herausforderung, den Weg der Abstinenz zu gehen, in einer Welt, in der zu jedem Anlass angestoßen wird.

Wie kann man sich gegen die Versuchung wappnen?

Frederik Jan Krabbe: Die wichtigsten Strategien lernen Betroffene schon in der Therapie, die im Anschluss an den klinischen Entzug stattfindet. Diese Strategien werden dann bei uns vertieft, kritische Situationen gemeinsam analysiert.
Matthias Hundt: Ein Ansatz ist es, die eigene Motivation zu ergründen: Trinke ich, um zu vermeiden, zu vergessen oder weil ich glaube, dass es andere von mir erwarten? Wenn ich das begriffen habe, kann ich mir Alternativen überlegen, um mit Stressoren im Job oder psychischen Problemen umzugehen.

Suchthilfe im Kreis Unna

Roggenmarkt 18-20 · 44532 Lünen · Tel. 0 23 06 / 100 666
www.suchthilfe-unna.de

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