Wo kommen all die Schafe her?
Auf den Spuren eines Wanderschäfers
Eines Morgens hatte ich beim Joggen in Castrop-Rauxel ein Erlebnis der dritten Art: Die grüne Wiese am Schloss Bladenhorst wurde plötzlich von weißen ›Wattebauschen‹ bevölkert. Der Wind trug ein Blöken und Meckern heran. Ich rieb mir die Augen: Wo kamen all die Schafe auf einmal her? Und wo wollten sie hin? Ein Jahr später habe ich den Mann ausfindig gemacht, der die Antwort kennt: Mark Cass von der Lüner Schäferei Konze ist einer der letzten Wanderschäfer der Region.
Begrüßt von Barry
Wir verabreden uns am Salzbach, wo er sein Lager aufgeschlagen und ein großes Stück des verwilderten Geländes mit Elektrozaunmodulen abgesteckt hat. Von den Schafen ist an diesem Tag allerdings erst mal nichts zu sehen. Dafür werde ich von einem freundlichen fuchsbraunen Hund begrüßt. Kurz darauf lugt Mark Cass aus seinem Wohnwagen. Ich erfahre, dass der Hund Barry heißt und ein Australian Kelpie ist. »Diese Rasse wird auch im Outback zum Schafehüten eingesetzt, da Australian Kelpies sehr intelligent sind, die Herde gut kontrollieren und mitdenken«, erklärt Mark Cass. »Außerdem kommen sie gut mit der Hitze klar.« Letzteres wird in Zeiten des Klimawandels auch in Deutschland immer wichtiger. Während sich die Schäfchen im Schatten versteckt halten, tollt der Rüde lebhaft herum.
»Erst die Schafe, dann die Freizeit«
»Mein Barry ist ganz lieb! Das muss er auch sein als Hütehund«, versichert Mark Cass. Der gebürtige Dortmunder wurde vor drei Jahren von der Schäferei Konze angeworben. Einst leitete er eine eigene Spedition, doch die Wirtschaftskrise 2006 machte dem Unternehmen den Garaus. Mark Cass schulte zum Fachlageristen um. »Dann traf ich meinen Senior.« Gemeint ist Schäfer Thomas Konze aus Lünen, der den vom Aussterben bedrohten Beruf seit nunmehr 48 Jahren ausübt. Inzwischen führt sein Sohn Elias den Betrieb mit Sitz in Alstedde. »Sie haben mich in die Familie aufgenommen«, freut sich Mark Cass. Die Arbeit sei hart, ein »Knochenjob«. Und das an sieben Tagen in der Woche. »›Erst die Schafe, dann die Freizeit‹, lautet unsere Devise.« Er strahlt: »Ich war anfangs selbst überrascht, wie sehr ich es genieße. Aber ich will nichts anderes mehr machen.«
»Es sind gemütliche Tiere«
Als Wanderschäfer kümmert sich Mark Cass um rund 500 Tiere – Merinos, Schwarzköpfe, Merino-Mix-Schafe und einige Ziegen –, die fast das ganze Jahr über an den grünen Ufern von Emscher, Lippe und Kanal weiden. Auf ihrem weiten Marsch von Münster über Lünen, Ickern, Castrop-Rauxel und Bladenhorst bis nach Gelsenkirchen und zurück Richtung Selm überqueren sie auch schon mal die eine oder andere Bundesstraße – daran führt kein Weg vorbei. Zum Glück zeigen die meisten Autofahrer Verständnis. »Natürlich gibt es immer auch mal welche, die ungeduldig sind, weil sie schnell zur Arbeit müssen«, berichtet der Hirte. »Aber wir haben keine Wahl. Wir können die Route nicht nach den Arbeitszeiten der Leute planen. Wir müssen uns nach dem Tempo der Schafe richten. Es sind gemütliche Tiere.«
Kleine »Rasenmäher« an Emscher und Lippe
Wobei: So langsam sind die Schafe nun auch wieder nicht. »Mit meinen kleinen Rasenmähern schaffe ich in vier Tagen so viel wie ein professioneller Gartendienst«, ist Mark Cass überzeugt. Noch besser: Dieser ›Gartendienst‹ kommt ganz ohne chemische Düngemittel und Maschinen aus. Darüber freut sich vor allem die Natur an den Ufern von Emscher und Lippe. Der 45-Jährige erinnert sich noch gut an seine Kindheit, als die Emscher ›die Kloake des Ruhrgebiets‹ war und kaum eine Pflanze an ihrem Betonbett gedieh. »Mit unseren Schafen leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Renaturierung des Flusses und seiner Zuflüsse. Durch den Kot der Tiere werden die Samen der Pflanzen weiter transportiert, grünes Leben entsteht.«
Schlachtung erfolgt nach EU-Normen
Im Winter wird die Herde auf den Rapsfeldern lokaler Bauern untergebracht. Sie profitieren ebenfalls vom Öko-Dünger. Erst im Frühling, zur Lammzeit, kehren die Schafe zurück auf den heimischen Hof in Lünen-Alstedde. Hier beginnt ihr Weg, und hier wird er irgendwann enden. Auch das gehört zum natürlichen Kreislauf. Irgendwo muss das Geld herkommen. Der Verkauf der Schurwolle wirft zu wenig ab. Die Schlachtung erfolgt im betriebseigenen EU-zertifizierten Schlachthaus nach einer Beschau durch das Veterinäramt. Es trifft ausgewählte Lämmer sowie altersschwache Tiere, die ihr Leben lang auf den Weiden an Emscher und Lippe gegrast haben. Nachhaltiger geht es kaum.
Aufbruch in Sicht
Die Schafe und Ziegen, die sich heute im dichten ›Urwald‹ vor der Sonne (und meiner Fotokamera) verstecken, haben den Weg des Lebens noch vor sich. Ich muss später wiederkommen, wenn ich für meine Bilder nicht quer durch die Brombeeren stiefeln will. »Am besten gegen Abend, wenn es nicht mehr so heiß ist und die Tiere zum Fressen und Trinken rauskommen«, rät Mark Cass. Zwei Tage ist er noch vor Ort. Dann wird er seine Zelte abbrechen und mit seiner Herde und Hütehund Barry weiterziehen …
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