Stadtmagazin Lünen: Historisch

Per App in die Vergangenheit

Foto(s) zum Vergrößern anklicken

Quellenangabe in den Vergrößerungen

Das Projekt ›Verwischte Spuren‹ schickt uns auf eine Zeitreise durch die jüdische Geschichte

Es hat schon etwas Drolliges, wie die 16 jungen Turner(innen) mit ihren hochgezogenen Kniestrümpfen vor der Schule für das Foto posieren. Wenige Jahre später wird die eine Hälfte von ihnen tot sein, die andere auf der Flucht. Das Schicksal der ›Kinder der Turnstunde‹ hat der Lüner Regisseur Michael Kupczyk in seinem gleichnamigen Dokumentarfilm (2016) zur Geschichte der Juden in Lünen verarbeitet. Basierend auf dem berührenden Werk wurde nun ein digitales Projekt entwickelt: Mit der App ›Verwischte Spuren‹ können Smartphonenutzer den verborgenen Zeugnissen jüdischer Familien an der Lippe in virtuellen oder echten Stadtrundgängen nachspüren.

Was wurde aus den ›Kindern der Turnstunde‹?

»Auch in meiner Schulzeit standen Themen wie Machtergreifung oder Judenverfolgung auf dem Lehrplan, aber der ›Nahbereich‹ war bei mir, wie beim Großteil der Bevölkerung, völlig unterbelichtet«, so Michael Kupczyk, der zuvor eher durch Krimikomödien wie ›Diamantenhochzeit‹ (2010) auf sich aufmerksam gemacht hatte. »Als gebürtiger Lüner kannte ich natürlich die schreckliche Geschichte von den beiden Männern, die in der Reichspogromnacht in die Lippe getrieben wurden. Dagegen war mir nicht klar, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war: Von 200 jüdischen Mitbürgern wurden 76 ermordet, darunter auch viele der Kinder, die auf dem Foto zu sehen sind. Alle anderen wurden vertrieben, so dass die Gemeinde 1945 komplett ausgelöscht war. Das hat mich damals zu Beginn des Filmprojekts erschüttert und angespornt.« Im Auftrag der Bürgermeister-Harzer-Stiftung begann der Regisseur, Nachforschungen zu den Personen auf dem Bild anzustellen, alte Adressen zu durchforsten – und machte Lore Gottlieb, geborene Terhoch, in einer Seniorenresidenz in Haifa/Israel ausfindig.

»Es gab Momente, in denen ich mich bemühen musste, mit Tränen in den Augen einen geordneten Eindruck zu machen«

Ob es aufregend war, der letzten Überlebenden persönlich gegenüber zu sitzen? »Natürlich! Nicht nur aus organisatorischer Sicht, es war auch menschlich total berührend. An zwei Drehtagen traten bei den Gesprächen mit der über 90-jährigen Dame auch einige ganz persönliche Erinnerungen zu Tage, an ihre Jugend in Gahmen, die Trennung von ihrer Familie, den Aufenthalt in Bergen-Belsen und die Befreiung. Es gab Momente, in denen ich mich bemühen musste, mit Tränen in den Augen einen geordneten Eindruck zu machen.« Umso beeindruckender, dass Lore Gottlieb sich ihrer alten Heimat nach wie vor verbunden fühlt, Deutsch als ihre Muttersprache bezeichnet. Ganz anders Herbert Haberberg aus Brambauer, der 1939 nach dem Abschied von seinem Vater im Kindertransport nach England gebracht wurde, wo er sich später freiwillig für die Armee meldete. »Ich erwartete nicht zurückzukommen, es war mir auch egal«, sagt der ältere Herr in die Kamera. »Meine Absicht war, ehrlich gesagt, so viele Deutsche zu eliminieren, wie ich konnte. Das war Rache.«

Mobile Infos zu 39 Schauplätzen

Für die ›verwischten Spuren‹ wurden Filmszenen und Experteninterviews mit alten Archivfotos, Texten und Tondateien zu einer Collage verwoben, die den neuesten Stand der Forschung zur jüdischen Geschichte in Lünen, Selm und Werne kompakt zusammenfasst. Per Handy-App (und natürlich auch am Rechner) können Interessierte die wichtigsten Informationen zu jedem der insgesamt 39 historischen Schauplätze abrufen. Zusätzlich gibt es zu jeder Stadt zwölf Quizfragen. Das Projekt wurde durch die Bürgermeister-Harzer-Stiftung und die Bürger- und Kulturstiftung der Sparkasse an der Lippe finanziert und von Michael Kupczyk in enger Kooperation mit der GeschichtsManufaktur Dortmund und dem Stadtarchiv Lünen umgesetzt.

Geschichte am Beispiel konkreter Familienschicksale

Vor Ort in Lünen bietet sich ein Streifzug durch die Innenstadt an, vom Alten Markt, der in der Reichspogromnacht zum Mittelpunkt zahlreicher Gräueltaten wurde und in dessen direkter Nachbarschaft einst die jüdische Synagoge und Schule ihren Sitz hatten, vorbei an den Wohnhäusern der Familien Levy (Alter Markt / Ecke Lange Straße), Feldheim (Roggenmarkt) und Martin (Bäckerstraße) bis hin zum Mahnmal an der Lippe und den Stolpersteinen vor dem ehemaligen Samson-Haus an der Cappenberger Straße. Die Tragik der geschichtlichen Ereignisse wird hier am ­Beispiel konkreter menschlicher Schicksale verdeutlicht. »Man sagt immer: Es ist schlimm, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben. Dabei vergessen wir oft, dass die Juden selbst Deutsche waren, mit langen Familientraditionen und gutem Ansehen, auch hier in Lünen«, so Michael Kupczyk. »Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erstreckten sich manche Tragödien über Jahre, von der sozialen Ausgrenzung und dem Boykott der Geschäfte bis zur Vertreibung oder Ermordung. Die Feldheims beispielsweise haben seit 1939 verzweifelt versucht, mit ihren Töchtern aus ihrer Heimat zu entkommen, bis sie 1943 schließlich nach Auschwitz deportiert wurden. Das kann man sich kaum vorstellen!«

Alle Fotos: Sammlung Judaica, Stadtarchiv Lünen

Weitere Infos: verwischte-spuren.de

Facebook Logo  diese Seite auf Facebook teilen0