Stadtmagazin Lünen: In der Stadt

»Ein großes Abenteuer«

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Im Gespräch mit Ex-Steiger Raimund Böhm

Beim Stichwort Bergbau denken wir heute zuerst an staubgeschwärzte Gesichter unter flackernden Stirnlampen. Wir denken an mutige, muskelbepackte Männer mit Spitzhacke, an harte, aber ehrliche Knochenarbeit, an Kameradschaft und unbedingten Zusammenhalt. Doch entsprechen diese Vorstellungen wirklich der Realität? Handelt es sich nicht vielmehr um eine romantische Verklärung der Vergangenheit? Wie ging es damals unter Tage wirklich zu? Wir sprachen mit Raimund Böhm, ehemaliger Steiger auf der Zeche Minister Achenbach.

»Dunkel, staubig und heiß. Aber auch nass, windig und kalt.«

»Mein Vater war Bergmann, wir wohnten in Alstedde in einer Bergarbeitersiedlung, daher habe ich nach den üblichen acht Schuljahren 1961 mit vierzehn als Schlosserlehrling auf der Zeche angefangen«, berichtet der heute 72-Jährige. Und? Wie war das so, unter Tage? »Dunkel, staubig und heiß. Aber auch nass, windig und kalt. Es fühlte sich an, wie wenn man im Winter ständig zwischen der beheizten Wohnung und draußen hin und her wechselt. Mir hat das alles nichts ausgemacht, ich war körperlich gut beieinander, habe es eher als großes Abenteuer gesehen!«

»Minister Achenbach war seine Zeche«

»Ihr wart so jung, ihr habt doch gar nicht begriffen, was es bedeutet«, bemerkt seine Frau Silvia. Sie ist selbst einmal mit ihrem Mann als Besucherin in die Tiefe gefahren. Eine schreckliche Erfahrung, wie sie im Nachhinein erklärt: »Ich war dafür nicht gemacht. Aber mein Mann hat die Arbeit im Bergbau immer geliebt. Minister Achenbach war seine Zeche.«

»Bergarbeiterfamilien wurden bevorzugt behandelt«

Und die Zeiten waren auch andere, damals, in den Sechzigern, als man zum Heiraten noch die Erlaubnis der Eltern brauchte – und verheiratet sein musste, um eine gemeinsame Bleibe anmieten zu können. Auf dem knappen Wohnungsmarkt wurden Bergarbeiterfamilien bevorzugt behandelt. Zudem ließ sich auf dem Pütt gutes Geld verdienen. »Klar war es hart«, so Raimund Böhm. »Zumal ich nie etwas zu essen dabei hatte – die Mäuse hätten es mir ohnehin aus den Taschen geklaut. Aber für die Summe, die ich an den Wochenenden und durch Überstunden nach Hause brachte, hätte meine Frau einen ganzen Monat schuften müssen. Darüber hinaus bekamen wir Kohle zum Heizen und konnten über die Ruhrkohle günstig Urlaub machen. Viele Vorteile!«

Schlosser in 800 Metern Tiefe

Zunächst kümmerte sich der junge Familienvater im sogenannten Lokschuppen um die Reparatur der luftdruckbetriebenen Lokomotiven, mit denen die Förderwagen an die Erdoberfläche transportiert wurden. »Ganz früher nutzte man Grubenpferde, aber das war vor meiner Zeit, ich habe nur noch die leeren Pferdeställe unter Tage gesehen.«
Ab 1968 war Raimund Böhm als Schlosser in Schacht 1/2 in bis zu 800 Metern Tiefe für die Wartung und Instandsetzung der Maschinen zuständig. »Die Kohle kam auf Laufbänder, wurde gelesen, gebrochen und gewogen, ehe man sie in Ladungen von 20, später 25 Tonnen in einem Förderskip nach oben zur Wäsche beförderte.«

»Angst hatte ich nie«

Eine körperlich anstrengende, aber erfüllende Tätigkeit für Raimund Böhm, der vom Vorarbeiter zum Aufsichtshauer und schließlich, mit 40 Jahren, zum Steiger aufstieg. Angst in der Tiefe, in der Dunkelheit habe er nie verspürt. »Dann wäre es der falsche Job gewesen. Natürlich hat es schlimme Unglücke gegeben – bei der Schlagwetterexplosion 1967 war ich selbst unter Tage, habe Kollegen und Freunde zu Grabe getragen. Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht, das lässt sich gar nicht vermeiden.«

Heimlicher Weihnachtsbaum und Feierabendbier

Trotzdem kam für ihn nie etwas anderes in Frage. »Alle meine Kollegen haben auf der Zeche gearbeitet. Das war eine richtige Gemeinschaft, rau aber herzlich. Wenn einer mit seinen Aufgaben fertig wurde, hat er dem anderen geholfen. Alle haben sich gut verstanden, egal ob Deutscher, Türke, Grieche, Spanier oder Pole. Unten wurde kein Unterschied gemacht. Zu Weihnachten wurde im Lokschuppen sogar manchmal heimlich, also von der Zechenleitung unbemerkt, ein Weihnachtsbaum aufgestellt.« Und auch nach der Schicht herrschte unter den Bergleuten ein gutes Miteinander. »Nach Feierabend haben die Männer erstmal ein Bier getrunken, oben beim Büdchen, an der heutigen Zechenstraße, wo inzwischen die Pizzeria ist«, verrät Silvia Böhm. »Es wurde auch gemeinsam gekegelt, sogar zusammen Urlaub gemacht.«

»Ich bin froh, dass mein Mann da heile rausgekommen ist«

So war die Schließung der Zeche Minister Achenbach im Jahre 1992 für alle ein großer Schock. »Es ist schlimm, wenn etwas endet, in das man jahrelang so viel Herzblut gesteckt hat. Das hat dem ganzen Trupp wehgetan.« Raimund Böhm gehörte zu den letzten Kumpeln, die nach der finalen Schicht aus dem Förderkorb stiegen. »Ich war dabei, als an Schacht sieben auf der fünften Sohle die Unterseile vom Förderkorb abgelassen wurden.« Danach wechselte er für einige Jahre zur Zeche Blumenthal in Recklinghausen, ehe es in den wohlverdienten Ruhestand ging. »Ich bin froh, dass mein Mann da heile rausgekommen ist!«, sagt seine Frau Silvia.

»Ich erinnere mich an jeden einzelnen Tag«

Im Haus der Böhms in Brambauer ist der Bergbau indessen nach wie vor ein Thema. Geheizt wird wie früher mit Kohle, im Keller zwischen BVB-Fanartikeln tummeln sich Relikte aus vergangenen Jahrzehnten. Auch gehört Raimund Böhm bis heute der Achenbach-Sportgruppe an. Und einmal im Jahr geht es zum Ehemaligentreffen, das er zwanzig Jahre lang zusammen mit vier Mitstreitern organisiert hat, ehe die Federführung an jüngere Hände übergeben wurde. »Über 100 Leute kommen zu diesen Veranstaltungen, und es wird nur über die Zeche geredet«, berichtet der ehemalige Steiger mit einem Lächeln. »Ich selbst könnte stundenlang weitererzählen. Schließlich erinnere ich mich an jeden einzelnen Tag.«

Wissenswerte Schnipsel

Kohlefunde an der Zechenstraße: Belegschaft feierte drei Tage lang

Bereits 1877 konsolidierten mehrere Grubenfelder in Brambauer unter ›Minister Achenbach‹. Namensgeber war der damalige Chef des preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe, der sich um den deutschen Bergbau verdient gemacht hatte. Im August 1897 erfolgte der erste Spatenstich zum Abteufen des Schachtes I auf dem Terrain an der heutigen Zechenstraße. Knapp zwei Jahre später wurde ein Flöz in knapp 400 Metern Tiefe entdeckt. Es hieß, die 150 Mann starke Belegschaft habe drei Tage lang auf Kosten der Bergwerksgesellschaft gefeiert. Im Jahre 1900 konnte die erste Steinkohle zu Tage gefördert werden.

Sieben Schächte im ganzen Stadtgebiet

Ihren Ursprung hat die Zeche in Brambauer, doch im Laufe der Jahre dehnte sie ihren Wirkungskreis immer weiter aus. Zunächst wurden direkt neben Schacht 1 ein zweiter Schacht und eine Kokerei in Betrieb genommen. 1909 starteten 1,5 Kilometer östlich der Schächte 1/2 die Teufarbeiten für einen Wetterschacht. Ab 1918 kam im Nordostfeld, auf dem Gebiet des heutigen Technologiezentrums, der Schacht 4 hinzu. Die Schächte 5 und 6 entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts in Alstedde und Lippholthausen. 1960 wurde einen Kilometer westlich des Betriebsbereiches 1/2, an der Königsheide Richtung Mengede, der Schacht 7 abgeteuft.

Schwarze Weihnachten 1912

In seiner über hundertjährigen Geschichte forderte das Bergwerk Minister Achenbach viele Opfer. Die wohl schlimmste Katastrophe ereignete sich im Dezember 1912, als 49 Bergleute bei einer Schlagwetterexplosion ums Leben kamen. Berichten zufolge strömten damals Hilfstrupps aus sämtlichen umliegenden Zechen herbei. Der deutsche Kaiser höchstpersönlich sandte ein Beileidstelegram. In diesem Jahr, hieß es, hätten in Brambauer an keinem Weihnachtsbaum Kerzen gebrannt. Während der Feiertage wehten schwarze Fahnen über dem Ort.

Technik konnte den ›bösen Geist im Erdinnern‹ nicht bändigen

Auch in den Folgejahren und -jahrzehnten hatten die Bergarbeiterfamilien in Brambauer immer wieder Tote zu beklagen. Zwar vermeldete die Zeitung 1954: ›Katastrophen in der Art von 1912–1914 werden kaum noch zu befürchten sein, weil Technik und Schulung den bösen Geist im Erdinnern gebändigt haben‹. Doch schon 1968 verbreitete sich eine neuerliche Schreckensmeldung wie ein Lauffeuer: 17 Bergleute waren bei einer Schlagwetterexplosion im Flöz Ida auf der 800-Meter-Sohle verschüttet worden. Einige Ehefrauen erfuhren auf dem Markt von dem Unglück. Hier und auch vor den Toren der Zeche spielten sich dramatische Szenen ab, als einige Kumpel versuchten, den Frauen ihrer verunglückten Kameraden gewaltsam Zutritt zum Gelände zu verschaffen. Nach bangem Warten konnten nur zwei der Verschütteten lebend geborgen werden, sie verstarben jedoch kurz darauf.

Hauer verdienten fünf Mark pro Schicht

Die ersten bekannten Förder- und Belegschaftszahlen stammen aus dem Jahr 1900, als 221 Bergleute 1.173 Tonnen Steinkohle zu Tage förderten. Der Lohn für einen Gesteinshauer lag damals bei rund fünf Mark pro Schicht. Im Jahr 1982 erzielten 4.772 Beschäftigte mit 2.745.029 Tonnen das maximale Ergebnis. Insgesamt wurden in über 90 Betriebsjahren rund 126,5 Millionen Tonnen ›schwarzes Gold‹ an die Erdoberfläche gebracht.

Industrie, Technologie und Weinanbau auf historischem Grund

Die letzte Schicht fuhr am 30. Juni 1992 auf Minister Achenbach ein. Bald nach der Stilllegung des Bergwerks entstand auf dem rund 50 Hektar großen Gelände der ehemaligen Schachtanlage 1/2 das Industrie- und Gewerbegebiet Achenbach I/II. Neben diversen Firmen siedelten sich zwischenzeitlich auch Winzer auf der Halde an – der strenge Winter war dem Gedeihen der Rebsorten Ortega, blauer Burgunder und Muscato jedoch nicht gerade förderlich, so dass dieses Geschäft bald wieder einschlief. 1995 wurden die ehemaligen Verwaltungs- und Kauengebäude der Schachtanlage 4 zum Technologiezentrum Lüntec umgebaut. In direkter Nachbarschaft hält das auf dem ehemaligen Fördergerüst installierte Colani-Ei die Erinnerung an die alten Zeiten wach.

Infos: Stadtarchiv Lünen

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