Windmühlenplätzchen
Jule Springwald erzählt
Ich weiß gar nicht mehr, wann das angefangen hat. Früher – in meiner Kindheit – gab es das nicht, jedenfalls nicht bei uns zu Hause, im Gegenteil, vor dem Geburtstag meiner Mutter am 18. November war gar nicht daran zu denken. Ich glaube auch nicht, dass wir von uns aus auf die Idee gekommen wären. Die Rede ist von Weihnachtsgebäck im Allgemeinen und Spekulatius im Besonderen.
Als wir Kinder waren, war die Weihnachtsbäckerei Tradition und von uns sehnlichst erwartet, weil man dann meistens völlig ungestraft – von Bauchweh mal abgesehen – Unmengen Teig naschen konnte. Nach Mutters Geburtstag fingen die Vorbereitungen an. Traditionell gab es natürlich immer gebäckdosenweise Spritzgebäck mit und ohne Glasur oder Schokolade und Kokosmakrönchen mit und ohne Oblaten darunter. Zusätzlich probierten wir aber auch gerne neue oder wiederentdeckte Spezialitäten aus, und so wurden Backbücher und alte handgeschriebene Rezepte durchforstet, ebenso wie die einschlägigen Zeitschriften, in denen es nur so von neuen Ideen wimmelte. Dann wurden Einkaufslisten geschrieben und wieder verworfen, bis die Zeit knapp wurde und wir uns endgültig auf einige wenige Rezepte festlegen mussten.
Ich erinnere mich an Jahre mit unterschiedlichen Stollenkreationen mit und ohne Marzipan, Nuss- und Mohnfüllungen, kandierte Früchte und und und. In einem Frischhefejahr nahm der Teig kein Ende, so dass wir an Stelle der geplanten 7–8 Stollen derer über 20 erhielten, die zudem überaus köstlich und luftig-locker gerieten, während im darauffolgenden Trockenhefejahr aus der gleichen Teigmenge nur 6 feste und dröge Stücke wurden. In einer Drechslerei im Sauerland fand meine Mutter eine Plätzchenrolle, aber wegen unserer Ungeduld blieb der Teig meist darin hängen und wir verloren die Lust daran. Auch unser ›Springerle‹-Jahr bekam keine Wiederholung, das war mit so vielen Kindern und dem hohen Arbeitsaufwand nicht zu bewerkstelligen. Früchte- und Kletzenbrot waren zwar lecker, aber mächtig und auch nicht so der Renner bei uns Kindern, wobei ich es heute – in Maßen – auch gerne esse. Unsere Lebkuchenhausfabrik wurde nach einer Saison wegen Klebrigkeit des Materials und nicht sehr stabilen Bauteilen stillgelegt.
Immer aber gab es Spritzgebäck und Kokosmakrönchen in rauen Mengen, so dass im Januar noch etliche Dosen ›auftauchten‹ und uns die Wintertage versüßten. Nebenbei gab es Schneemänner aus Marzipan, Schokokugeln und Pralinen und Königsberger Marzipan aus unserer Weihnachtswerkstatt. Alles wurde bis auf kleine Probiermengen erst einmal weggeschlossen, damit zu Nikolaus und Weihnachten noch etwas da war.
Da meine Mutter aber immer Lust hatte, etwas Neues auszuprobieren, erstand sie in der oben erwähnten Drechslerwerkstatt-Spekulatiusmodeln. Das artete aber in eine Art Küchenschlacht aus, weil plötzlich jeder von uns am liebsten Windmühlen backen wollte und es nur eine Windmühlenmodel gab. Die Küche klebte, und weil wir – wie immer – zu ungeduldig waren, hatten wir am Ende der Backsession jede Menge Windmühlenruinen, die natürlich nur zum sofortigen oder zumindest zeitnahen Verzehr geeignet waren. Zum Schluss saßen wir alle mit Kakao und Ruinenplätzchen am Küchentisch. Seltsamerweise waren die anderen Spekulatius in der Überzahl ganz geblieben.
Heutzutage kann man Weihnachtsplätzchen schon im September kaufen. Und obwohl ich ansonsten ein einigermaßen vernünftiges Kaufverhalten an den Tag lege, werfe ich bei Windmühlenplätzchen alle Bedenken über Bord. Sobald die ersten Spekulatius – günstige Gewürzspekulatius – im Handel auftauchen, kaufe ich eine ganze Kiste davon und gebe sie zum Verzehr frei.
Scheinbar hat sich diese Unvernunft auf meine Kinder übertragen, obwohl ich das nicht bewusst gefördert habe. Bereits Ende August fiebern alle der ersten Lieferung entgegen und – man mag es kaum glauben – auch heute geht es dabei um die Windmühlen. Sobald die erste Tüte – und natürlich auch später alle anderen – geöffnet wird, ist sie auch schon halb leer. Auf geheimnisvolle Weise bekomme ich davon nicht eine Windmühle mit. Und die anderen Plätzchen schmecken einfach anders.
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