Wolkenschieberrennen
Jule Springwald erzählt
Ein scharfer Wind weht durch die Bäume und über die Wiesen und Felder, so dass sich die Pflanzen biegen und Staub, Laub und allerlei Unrat durch die Luft wirbelt. Ein heller Strahl fährt über den Himmel, gefolgt von einem lauten Krachen, das sich fast wie ein Startsignal anhört.
Plötzlich ziehen dunkle Wolken auf, immer mehr türmen sich am gerade noch blauen Himmel, die weißen Schäfchenwolken sind nur noch in der Ferne zu erahnen, so als ob sie freiwillig Platz gemacht hätten für ihre grauen Verwandten, die sich jetzt breit machen. Immer mehr türmen sich und werden immer dunkler, ab und zu leuchtet es innerhalb des Wolkenhaufens, der mittlerweile fast schwarz zu sein scheint. Die Luft darunter, vor wenigen Minuten noch klar und rein, trübt sich grünlich und es wird zunehmend stickig und schwül. Jetzt ist keine Bewegung mehr zu spüren, es ist vollkommen still und bedrohlich drückend.
Schlagartig rollt ein tiefes Grollen aus den Wolken, fast als ob etwas auf großen Rädern am Himmel herum geschoben wird. Aus allen Richtungen zucken Blitze, denen lautes Knallen und Krachen folgt. Ganz unvermutet hört man Stimmen aus den Wolken, leises Flüstern und lautes Rufen. Hin und wieder kichert jemand – oder etwas – oder bricht in schallendes Gelächter aus. Dann brechen die Wolken und Wassermassen schießen heraus, Starkregen und sogar Hagelkörner prasseln auf die Erde, die die ganzen Wassermassen nicht aufnehmen kann und kleine, schnell anschwellende Bäche bildet. Wieder diese Stimmen, jetzt auch glasklare, klirrende Laute.
Die Wolkenschieber haben Pause gemacht, und die Wolkenbewohner – Eis- und Hagelmännchen, Wasserweibchen, Donnerkerlchen, Blitzfrolleins und Staubteufelchen – haben diese ausgenutzt, um sich ein bisschen die Zeit zu vertreiben. Es ist nämlich gar nicht lustig, sein ganzes Leben in einer Wolke herumzusitzen. Früher haben sie gedacht, es sei doch sehr angenehm, sich den lieben langen Tag herumfahren zu lassen und die Welt von oben anzuschauen. Nun wissen sie es besser: Langweilig ist es, sterbenslangweilig. Der einzige Zeitvertreib sind die Wolkenschieberrennen.
Hin und wieder verabreden sich die Wolkenschieber zu einem Treffen. Manchmal sind es spontane Kleintreffen, aber es gibt auch große Veranstaltungen mit Cloud-Pushers aus dem In- und Ausland. Da kann es ziemlich feuchtfröhlich zugehen und auch ganz schön laut werden. Diese Volksfeste werden übrigens immer beliebter und die Teilnehmer immer ausgelassener.
Zuerst kommen die Windmacher und Sturmburschen, die für die nötige Luftbewegung sorgen. Die kleinen Staubteufelchen laden sie zum Tanz ein, bis richtig schöne Böen und kräftige Wirbel entstehen. Zusammen rütteln sie an Bäumen und Fenstern und werfen sich auch mal ein paar Dachpfannen oder Liegestühle zu oder etwas anderes, was gerade greifbar ist. Es folgen die Blitzfrolleins, die in ihren Glitzerkleidern und Funkelschleppen kunstvolle Bewegungen vorführen und die Wolken zum Leuchten und Blitzen bringen. Das ruft natürlich die Donnerkerlchen auf den Plan, denen man, weil sie so winzig sind, das tiefe Grollen und laute Krachen und Knallen gar nicht zutraut. Da sieht man die Leidenschaft für ihre Arbeit. Zuletzt kommen noch die Wasserweibchen und die Eis- und Hagelmännchen auf den Plan. Während sie bei kleinen Treffen eher sanften Regen fallen lassen, schütten sie mit Gießkannen und Eimern Starkregen und Hagel über die Erde unter den Treffen aus.
Die Wolkenschieber haben lange genug Pause gemacht. Ein heller Blitz noch, ein lauter Knall und das Rennen geht weiter. Noch ein paar Runden im Kreis um einen besonders schönen Luftwirbel herum, dann ziehen sie weiter. Ein Stück werden sie noch von den Resten des Wirbels begleitet, dann ist der Spuk vorbei.
Die Luft hat sich wieder geklärt, der Himmel ist ganz himmelblau, die Sonne scheint und die Vögel zwitschern. Auf der Erde verteilt sich langsam das Wasser und die Natur erholt sich … bis zum nächsten Event.
