Eisriese und Blütenbär
Jule Springwald erzählt
»Was piepst denn da so unerträglich?« denkt der Eisriese. Er liebt die Stille und beginnt darum schon im Herbst damit, die Welt abzukühlen, damit die Lebewesen, die mehr Wärme brauchen, sich auf die Kälte des Winters vorbereiten können. Wenn es dann endlich so richtig kalt ist, haben sich die ›Geräuschemacher‹, wie der Riese sie gerne nennt, in ihre Höhlen oder gar in wärmere Gefilde zurückgezogen, natürlich nicht ohne noch einmal so richtig Krach zu machen. Aber diese Abschiedsgeräusche findet er gar nicht so schlimm, denn danach beginnt die wunderbare Zeit der Stille.
Normalerweise weckt er, wenn er müde wird, den Blütenbären und zieht sich dann zum Sommerschlaf in den hohen Norden zurück. Der Blütenbär weckt dann die Pflanzen eine nach der anderen auf, zuerst die zarten weißen Schneeglöckchen, die mit ihrem hellen Gebimmel der Welt zeigen, dass der Frühling bald beginnen will. Die ersten zaghaft wärmenden Sonnenstrahlen kitzeln die nächsten Pflänzchen wach, und auch die ersten Vögel kehren zurück. Dieses Gepiepse und Geschnatter hört der Eisriese aber eigentlich schon nicht mehr.
Diesmal ist alles etwas anders, vielleicht wird der Eisriese langsam alt. Jedenfalls wird er das Gefühl nicht los, dass entweder er zu spät oder die Geräuschemacher zu früh sind. Dabei hat er den Blütenbären doch noch gar nicht geweckt. Die Schneeglöckchen beginnen zu verblühen, und Krokusse und Osterglocken blühen schon, obwohl auch der Winterjasmin noch viele frische Blüten trägt. Und dieses Gepiepse geht ihm ganz schön auf die Nerven. Warum machen die denn so einen Lärm? Er beschließt, sich das Ganze einmal aus der Nähe anzusehen. Dabei streift sein Atem über die feinen Krokusse, die sich vor lauter Kälte zusammenziehen und ganz schrumpelig aussehen. Oh, das hat er so nicht gewollt, denn eigentlich ist er doch ein guter Riese.
Da sieht er ein kleines Rotkehlchen mit einem Zweiglein im Schnabel vorbeiflattern und hält den Atem an, damit das Vögelchen nicht auch zusammenschrumpelt. Vorsichtig lugt er um die Ecke, hinter der es verschwunden ist, aber da kommt es schon wieder geflogen. Zack – weg ist es. Eigentlich ist der Eisriese nun sehr neugierig geworden, aber er ist auch schon ziemlich müde.
Da hört er plötzlich ein vertrautes Brummen, der Blütenbär ist angekommen und staunt, dass der Eisriese noch da ist. Aber da er ein gutmütiger Geselle ist, lädt er ihn noch auf einen Tee ein. Dann spielen sie noch ein bisschen Tauziehen, wie sie es in der Zeit zwischen Winter und Frühling immer machen. Einmal gewinnt der Eisriese, dann legt sich Raureif auf den Boden, und alles ist wieder weiß. Dann wieder gewinnt der Blütenbär, und der Raureif verschwindet und die Welt wird bunter. Nach ein paar Runden verabschiedet sich der Eisriese: »Vielleicht komme ich in diesem Herbst mal etwas früher her, wenn ich rechtzeitig ausgeschlafen habe. Mach es gut, lieber Blütenbär.«
Im Weggehen hört er, wie das Zwitschern und Piepsen immer lauter und fröhlicher wird. Frühling!
