Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

In der Tiefe, im Dunklen

Foto(s) zum Vergrößern anklicken

Quellenangabe in den Vergrößerungen

Vergessene Welten in Castrop-Rauxel · Teil 2

Der Zweite Weltkrieg – das von Deutschland entfachte Desaster ließ in zahlreichen Ländern und Regionen Menschen zu Schaden kommen und führte zu unzähligen Todesfällen. Doch auch in der deutschen Heimat selbst waren die Ausmaße zu spüren, wie wir bereits in der letzten Ausgabe des Stadtmagazins berichteten. Im Jahr 1943 nahm das Kriegsgeschehen in Castrop-Rauxel immer bedrohlichere Formen an. Ab dem Spätsommer beschlossen die Zechen, ihre bergbauliche Erfahrung zum Schutz der gesamten Bevölkerung einzusetzen, und begannen mit dem Bau von Tiefstollen.

Durch Treibsand hinab

Die Arbeit der Bergleute war oft heikel: Im Bereich der Zeche Victor in Rauxel mussten sie die Bahnstrecke unterkreuzen und in eine Tiefe von 20 Metern vordringen, um durch den Treibsand in tragfähige Gesteinsschichten zu gelangen. Bis Mitte 1944 stand jedoch ein Stollen von 680 Metern Länge zur Verfügung, der über drei bunkerartige Eingangsbauten zu erreichen war und bis zu 6.000 Personen Zuflucht bot. Im Bereich der Zeche Victor 3/4 ließ die Werksleitung ebenfalls einen ausgedehnten Tiefstollen anlegen. Dessen östliches Ende lag auf dem Grundstück zwischen der Holzheide und der Lange Straße. Von hier verlief er 143 Meter in südlicher Richtung, um südlich der Recklinghauser Straße nach Westen abzuknicken und der Lange Straße über 625 Meter zu folgen. Wie der Tiefstollen in Rauxel war auch dieser durch bunkerartige Eingänge zu erreichen.

Unterirdische Labyrinthe

Im Süden der Stadt spielte sich Ähnliches ab: Hier entstanden im Bereich der Zeche Erin zwei große Stollen für je 2.000 Menschen. Der ›Sportplatz-Stollen‹ wurde südlich des Sportplatzes Erin in den Hang des Astenbergs getrieben. Vom Haupteingang neben dem Tribünengebäude aus führte ein 90 Meter langer Gang bis zu einem Tunnelsystem, in dem Versorgungs-, Sanitäts- und Toilettenräume untergebracht waren. Von dort reichte ein Gang bis unter das kleine Wäldchen der Erin-Kampfbahn. Ein weiterer Tunnel verlief über eine Strecke von 120 Metern in östliche Richtung bis in die Nähe des Klothkamps. Der ›Erin-Stollen‹ erstreckte sich, ausgehend von dem Gelände der Zeche, über eine Distanz von 500 Metern bis zur Kreuzstraße. Der größte Stollen des südlichen Stadtgebiets lag unter dem Schellenberg. Er sollte ein Refugium für bis zu 6.000 Personen sein, wurde jedoch nie vollendet. Zuletzt hatte er eine Länge von 600 Metern und fünf Eingangsbauten. Auf Schwerin entstand derweil ein ausgedehnter Tiefstollen direkt unter dem Gelände von Schacht 1/2. Dieser verlief unter dem Gesundheitshaus und der Markenkontrolle hinweg in östliche Richtung und mündete nach 92 Metern in ein grillartiges Tunnelsystem. Außerdem entstand ein Stollen unter dem Schieferberg in Dingen, nahe den Schächten 3 und 4. Das verzweigte Tunnellabyrinth von 350 Metern Länge war für mehr als 2.000 Menschen ausgelegt.

»Die Wolken sahen aus wie mit Blut durchtränkte Wattebäusche«

Im Laufe des Jahres 1943 häuften sich die Luftangriffe auf das Ruhrgebiet. »Ein blutroter Schein am Horizont, der von den Großbränden ausging, zeigte den nach der Entwarnung in ihre Wohnungen zurückkehrenden Menschen des Reviers, welche Nachbarstadt es diesmal getroffen hatte«, heißt es bei Werner Baumeister, ehemaliger Luftwaffenhelfer und Autor von ›Castrop-Rauxel im Luftkrieg 1939–1945‹. Er zitiert auch die britischen Flieger, die das Inferno mit eigenen Worten beschrieben: »Die Wolken sahen aus wie mit Blut durchtränkte Wattebäusche.« Städte verwandelten sich in Ruinenfelder. Aus den zerbombten Häuserzeilen schlug scharfer Brandgeruch. Die anfangs noch hoffnungsvolle Grundstimmung innerhalb der Bevölkerung wich in dieser Zeit der Ernüchterung. Einen Einbruch der allgemeinen Moral gab es laut Werner Baumeister aber nicht. Bei all der Zerstörung und dem Tod machten die Menschen nicht ihre eigene politische Führung verantwortlich, sondern beklagten allein die Grausamkeit ihrer Gegner.

Trotz dicker Mauer keine Überlebensgarantie

Ab August 1944 herrschten in Castrop-Rauxel infernalische Zustände: Ganze Häuserzeilen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Gebäude brannten lichterloh. Während die privaten Keller zunehmend leer blieben, wurden Plätze in den vermeintlich sicheren Bunkern und Tiefstollen immer begehrter. Heute können wir nur ahnen, wie es damals gewesen sein muss, dicht gedrängt im Dunkeln zu hocken, auf die Erschütterungen zu lauschen, die Lage über den rauschenden Drahtfunk mitzuverfolgen. Und dabei zu wissen, dass selbst die dicksten Mauern keine Überlebensgarantie boten. Am 11. September traf es die Insassen eines Luftschutzstollens unter der Recklinghauser Straße: Beim Bau war nicht an die hier verlaufenden Gas- und Wasserleitungen gedacht worden. Als Bomben den Eingang zertrümmerten, rissen die Leitungen, und große Mengen Wasser und Gas strömten in den Stollen, womit das Schicksal von 46 Menschen besiegelt war. Im März 1945 begruben herabstürzende Erdmassen Schutzsuchende in den Stollen unter dem Schieferberg.

»Bunkerbabys« und »Bunkertod«

Während die Westfront näher rückte, brausten immer mehr Jagdbomber im Tiefflug über dem Revier. Das Krachen der Bomben gehörte längst zur gewohnten Geräuschkulisse. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich die Zahl der Patientinnen und Patienten mit seelisch bedingten Krankheitserscheinungen wie Herzneurose, Magen-Darmbeschwerden, Migräne oder auch Nervenzusammenbrüchen mehrten. Ältere Menschen hielten die Belastung der stundenlangen Aufenthalte in den feuchten Luftschutzbunkern und
-stollen oft auch körperlich nicht mehr aus. Die Folge waren Kreislaufkollaps, plötzliches Herzversagen oder Schlaganfall. Der sogenannte »Bunkertod« machte die Runde. Und auch die Kindersterblichkeit stieg drastisch an, weil die stickige Bunkerluft die Verbreitung von Masern, Scharlach oder Lungenentzündung begünstigte. Wer krank und geschwächt war, erreichte die rettende Anlage häufig gar nicht erst. Noch mehr Pech hatten die ausländischen Zwangsarbeiter, die in anderen, nicht bombensicheren Räumen ausharren mussten. Insgesamt fanden 311 Bürgerinnen und Bürger sowie 158 Kriegsgefangene und Zivil-Ausländer bei Luftangriffen auf Castrop-Rauxel den Tod. Für manche Menschen wurde der Bunker zum Grab. In den dunklen Verstecken kamen aber auch Babys zur Welt, ehe die Stadt Castrop-Rauxel Anfang April 1945 vollständig in die Hände der Alliierten fiel.

Facebook Logo  diese Seite auf Facebook teilen0