Verlassen, verfallen, vergessen
Den ›Lost Places‹ auf der Spur
Eine halb verfallene Villa am Rande des Ruhrgebiets. Die Tapete blättert von den Wänden. Der Boden ist mit Staub bedeckt. Durch die verriegelten Fenster fällt nur spärliches Licht ins Innere, weist uns den Weg durch die verlassenen Flure und Zimmer, vorbei an heruntergekommenen Möbeln, die wirken, als wären sie in der Hast des Auszugs vergessen worden. Ganz hinten im Halbdunkel steht ein altes Klavier, auf dem schon lange kein Mensch mehr gespielt hat. Doch wer aufmerksam lauscht, vernimmt vielleicht noch das geisterhafte Echo der Musik von einst …
»Ich glaube daran, dass alten Gebäuden ein Geist innewohnt«
»Ich bin nicht abergläubisch«, sagt Fotokünstler Peter Hoffmann, der das ›Geisterhaus‹ vor einigen Jahren besucht hat. »Aber ich glaube daran, dass alten Gebäuden ein Geist innewohnt – in dem Sinne, dass solche Gemäuer bestimmte Stimmungen transportieren, die düster oder auch mal heiter sein können. In der leerstehenden Villa, die übrigens aus dem 18. Jahrhundert stammt, herrschte damals eine ziemlich schaurige Atmosphäre, nicht nur wegen der eigentümlichen Lichtverhältnisse.« Das Verhältnis von Licht und Schatten ist für Peter Hoffmann auch aus hauptberuflicher Sicht interessant: Werktags betreibt er eine Augenarztpraxis in der Castrop-Rauxeler Innenstadt. Nach Feierabend tauscht er das medizinische Besteck gegen die Kamera, eine Sony A7, um die besonderen Lichtstimmungen in Wäldern, verwaisten Wohnhäusern und Industrieruinen einzufangen.
»Der natürliche Verfall übt eine gewisse Faszination aus«
Knorrige Zweige, die durch hohle Fenster ins Innere baufälliger Gebäude klettern. Überwucherte Gleisbetten, auf denen ewig kein Zug mehr gefahren ist. Stahl und Beton mitten im Nirgendwo. An vielen sogenannten ›Lost Places‹ hat sich die Natur ihr Terrain zurückerobert. Aber auch der Mensch hat seine Spuren hinterlassen und trägt zur Gesamtkomposition des Settings bei: mit Graffiti besprühtes Mauerwerk, zertretene Glasscherben, eine rostige leere Bierdose … Solchen und ähnlichen Motiven wohnt eine morbide Ästhetik inne. »Der natürliche Verfall übt eine gewisse Faszination aus«, erklärt Peter Hoffmann auf die Frage, was für ihn den Reiz der Schauplätze ausmache. Die Betonung liegt dabei auf ›natürlich‹ – viele Lost Places sind der Witterung seit Jahrzehnten schutzlos ausgeliefert. »Als Museum würden diese Orte ihre Anziehungskraft schnell verlieren.«
Kindheitserinnerungen am Beckenrand
Nostalgische Gefühle weckt die Fotoserie eines Schwimmbads in Wattenscheid, das seinen Ursprung in den 1920ern hat und vor rund zehn Jahren dicht gemacht wurde. Die Hallen sind inzwischen abgerissen, doch der Außenbereich mitsamt Startblöcken und Sprungturm existiert nach wie vor. Im Laufe der Zeit haben sich die leer gepumpten Becken mit Regenwasser neu gefüllt. Am Beckenrand sprießen Gräser und Keimlinge aus den Ritzen zwischen grauen Steinplatten hervor. »So verfallen das Gelände auch ist – bei diesem Ausflug kamen Kindheitserinnerungen hoch«, verrät Peter Hoffmann. »Ähnlich geht es mir auch immer im Parkbad Süd, das im Unterschied zu Wattenscheid sehr schön restauriert wurde. Ich weiß noch genau, wie wir als Kids in Zweierreihen vom ASG zum Schwimmunterricht rübermarschieren mussten. Diese Bilder sind plötzlich wieder da.«
›The Evil Dead‹ zum Leben erweckt
Eine Extraportion Nervenkitzel bescherte ihm die Besichtigung einer stillgelegten Psychiatrie in Belgien. Die riesige, labyrinthartige Anlage mit langen Gängen und unzähligen Türen zieht Gruseltouristen und Fotografen aus aller Welt in ihren Bann – so auch Peter Hoffmann, dem beim Betreten eines Raumes der Atem stockte. Über einer schmutzstarrenden alten Badewanne hatte jemand das Wort ›Evil‹ an die Wand geschrieben – in blutroter Schrift. Daneben hing ein umgedrehtes Kreuz, das an eine Geisterbeschwörung denken ließ. Wurden hier die Dämonen zum Leben erweckt? »Offenbar hatte irgendjemand die Location als Kulisse für den Dreh eines privaten Horrorfilms genutzt«, vermutet der Fotograf schmunzelnd, »und dabei jede Menge Kunstblut verspritzt …«
Take nothing but pictures …
Die größte Bedrohung geht in baufälligen Immobilien wohl eher nicht von Geistern und Dämonen aus. Oft besteht Einsturzgefahr, oder Durchbrüche sorgen für böse Überraschungen. Darüber hinaus bewegen sich die Besucher oftmals in einer gesetzlichen Grauzone. Denn die Eigentumsverhältnisse sind häufig ungeklärt. Der unter Fotografen verbreitete Leitsatz ›take nothing but pictures, leave nothing but footsteps‹ verliert spätestens mit Zäunen und Verbotsschildern seine Gültigkeit. »Natürlich sollte man sich nicht illegal Zutritt verschaffen«, warnt Peter Hoffmann. »Meine Erfahrung ist: Wenn man die Eigentümer ausfindig macht und freundlich fragt, lassen sie einen manchmal rein.« So geschehen auf dem Gelände der 1993 geschlossenen Zeche Consolidation in Gelsenkirchen-Bismarck. »Der Ingenieur der Abbruchfirma hat mich unmittelbar vor dem Abriss noch einmal durch die Halle geführt. Zum Dank schenkte ich ihm ein Bildmotiv. Das hängt jetzt als Poster bei ihm an der Wand.«
Magische Kulissen verschwinden von der Bildfläche
Viele der Industriegrundstücke, die Peter Hoffmann in den letzten Jahren abgelichtet hat, teilen das Schicksal der Zeche ›Consol‹: Sie wurden dem Erdboden gleichgemacht, um Raum für neue urbane Projekte zu schaffen. Magische Kulissen verschwanden damit von der Bildfläche. Die Foto-Serien von Peter Hoffmann sind somit auch ein Versuch, das Andenken der Lost Places zu wahren und den ›Geist‹ dieser einzigartigen Orte am Leben zu erhalten. Apropos: Was wurde aus eigentlich aus der ›Geistervilla‹ mit dem Klavier? »Meines Wissens steht sie noch. Und man kann für die Zukunft nur hoffen, dass dieses außergewöhnliche historische Gebäude die Zeit überdauert.«
Weitere Infos & Bilder: www.fuchsroehre.org