Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

Kurz vor der Rente

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Jule Springwald erzählt

Die Rente – nun steht sie also vor der Tür. Also nicht die Rente in persona, ich hoffe, die landet pünktlich auf meinem Konto, immerhin habe ich alles in meiner Macht Stehende dafür getan: viele Jahre gearbeitet und dem Staat neue Steuerzahler herangezogen und zu guter Letzt auch den entsprechenden Antrag gestellt, auf dessen Bewilligung ich derzeit warte.

Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt, wie auch immer ich auf dieses schmale Brett gekommen sein mag. So mit Pauken und Trompeten vielleicht, in Anlehnung an die Einschulungsszenarien mit einer Rententüte mit allerlei Naschwerk, das mir den Abschied vom Arbeitsleben versüßen soll. Oder zumindest mit einem Spalier aller Rentner, die es bis jetzt geschafft haben. Und mit einer Riesentorte mit der Aufschrift: ›Endlich Rentner*in 2023‹ oder so. Die Familie müsste klatschen, weil ich das Arbeitsleben erfolgreich hinter mich gebracht habe und meine verdiente Altersruhezeit antrete. In der Zeitung sollte eine Anzeige erscheinen: »Mit großer Freude geben wir bekannt, dass Jule Springwald das Rentenalter erfolgreich erreicht hat. Wir wünschen ihr für die hoffentlich noch lange Zukunft alles Gute.« Mindestens.

Aber in natura sieht das so aus, dass die Kollegen sagen: »Schade, dass du uns verlässt. Willst du nicht ein oder zwei Jährchen dranhängen?« Immerhin tun sie ihr Bedauern kund. Die Familie freut sich, dass ich ja dann für diverse Aufgaben zu Hause zur Verfügung stehe, und darauf freue ich mich tatsächlich. Ein Blick auf mein Konto sagt mir, dass ich trotz guter Ausbildung, jahrelanger teils sehr gut bezahlter Arbeit und trotz der Erziehung von sechs neuen Steuerzahlern mit dem Lohn dafür, also der Rente, nicht auskommen werde. Wie viele Menschen – es sind tatsächlich meist Frauen – haben gar keine Wahl? Sie müssen irgendwie mehr Geld herbeischaffen, als die Rentenkasse hergibt, sie gehen weiterhin einer Arbeit nach; das darf man/frau ja nun, ohne dass etwas von der bereits verdienten Rente abgezogen wird, immerhin. Und Kindererziehungszeiten werden ja auch berücksichtigt. Wenn man sich vorstellt, wie man für das Geld, was man nun für diese Zeit und Arbeit nachträglich erhält, ein Kind großziehen soll, kommt man schnell ins Staunen und Zweifeln. Man kann aber zumindest die Süßigkeiten für die Enkel davon bezahlen, immerhin.

Man merkt es vielleicht, ein bisschen unzufrieden bin ich schon. Genau wie viele andere werde ich im Ruhestand ein bisschen hinzuverdienen. Und man mag es nicht glauben, ich freue mich nicht nur wegen des Geldes darauf.

Bisher war ich im Nachmittagsbereich einer Offenen Ganztagsschule tätig, das hat mir viel Freude bereitet, war aber auch zunehmend anstrengend. Eins habe ich in den vergangenen Tagen bemerkt: Die Kinder, die ich bisher betreut habe, mit denen ich gemeinsam gegessen, Hausaufgaben gemacht, gespielt und gebastelt habe, die werden mir fehlen. Und zwar richtig dolle fehlen! Ich werde die kleinen und großen Geschichten vermissen, die sie mir anvertraut haben, die Hände, die sich in Stresssituationen vertrauensvoll in meine gelegt haben, sogar die Tage, an denen die Kinder besonders aufgeregt waren, weil sie gerade spezielle Situationen zu Hause, im Sport, im Urlaub oder in der Schule erlebt haben. Nun werde ich mein Arbeitsleben in den Frühdienst verlegen. Die Kinder morgens zu begrüßen und manch einem den Unterrichtsbeginn etwas zu erleichtern, wird demnächst meine Aufgabe sein.

Oft haben Kinder gefragt: »Frau Springwald, bastelst du etwas mit mir?« Dann haben wir zusammen überlegt, was man denn basteln könnte, anschließend die Umsetzung geplant und sind an die Ausführung gegangen. Kleine Schwierigkeiten dabei haben wir kreativ beseitigt. Bei der Farbauswahl für Bilder sind wir oft von der Tagesstimmung geleitet worden. Mit manchen Kindern habe ich kleine Geschichten erfunden, wobei ich den Kinderideen den Vortritt gelassen und nur bei der Rechtschreibung und Grammatik geholfen habe. Diese Kreativität wird meinen eigenen Geschichten nun wieder zufließen, vielleicht sammle ich meine Geschichten wieder zu einem Buch. Auch mein Garten, der in den letzten Jahren meine Zuwendung vermissen musste, wird davon profitieren, dass ich wieder mehr Zeit für ihn habe, in den gerade vergangenen Sommerferien habe ich damit angefangen, ihn ein bisschen in Form zu bringen.

Alles in allem freue ich mich nun tatsächlich auf meinen Unruhestand.

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