Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Gesundheit und Wellness

»Gefangen im eigenen Körper«

Foto(s) zum Vergrößern anklicken

Quellenangabe in den Vergrößerungen

Angehörige veröffentlichen Wegweiser zum Leben mit ALS

Als die Mutter eines Kollegen an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankte, war es für ihn und seine Geschwister erst einmal ein großer Schock. Plötzlich standen viele Fragen im Raum: Was kommt jetzt auf uns zu? Wie genau äußert sich die Erkrankung eigentlich? Welche Ärzte kennen sich damit aus? Wo finde ich Rat und Unterstützung? Welche Hilfsmittel sind sinnvoll? Wer übernimmt die Kosten? Wie beantrage ich einen Pflegegrad?

»Aus Verzweiflung fängt man an zu googeln – und kriegt noch mehr Panik«

»Man erhält die Diagnose und steht dumm da«, berichtet seine Schwester Sina Bürger. »Oft vergehen bis zum ersten Termin mit der ALS-Ambulanz Monate. Man ist also erst mal auf sich allein gestellt. So war es auch bei uns. Aus Verzweiflung fängt man an zu googeln – und kriegt noch mehr Panik!« Zwei Jahre später: Ihre Mutter ist inzwischen verstorben, doch Sina kämpft nach wie vor für eine bessere Versorgung bei ALS. Um Betroffene zu unterstützen, hat sie in Zusammenarbeit mit anderen Angehörigen und dem Verein ›Chance zum Leben – ALS e. V.‹ einen Info-Flyer herausgebracht. Das Faltblatt bündelt wichtige Fakten zum Thema, nennt mögliche Ansprechpartner und soll als Wegweiser in der schweren Zeit der Erkrankung dienen.

»Du willst etwas machen, aber der Scheißkörper macht nicht mit«

Rund ein bis zwei Menschen unter 100.000 erkranken pro Jahr neu an dem unheilbaren Leiden des motorischen Nervensystems, das immer tödlich endet. Ein prominentes Opfer war zum Beispiel der britische Astrophysiker Stephen Hawking. Schwer getroffen hat es auch Robert, 59 Jahre, ehemaliger Pharmareferent aus Datteln. Anders als der berühmte Physiker leidet er an der schnell fortschreitenden bulbären Form. Von ihm und seiner Frau Anke erfahren wir hautnah, was ALS für die Patienten*innen und ihre Familien bedeutet. »Die Muskeln arbeiten nicht mehr so, wie sie sollen, und versagen nach und nach«, ­erklärt er, wobei ihm das Sprechen sichtlich schwerfällt, sodass Anke oft für ihn ›übersetzen‹ muss. Es ist erschreckend logisch: Die menschliche Muskulatur ist schließlich nicht nur für die Motorik, sondern auch für das Sprechen, Schlucken und Atmen zuständig. »Das Schlimme ist, dass man bei vollem Verstand bleibt«, sagt Robert. »Du willst etwas machen, aber der Scheißkörper macht nicht mit!« Anke und Sina verweisen auf die ›ALS Ice ­Bucket Challenge‹, bei der sich im Sommer 2014 weltweit Millionen Menschen mit Eiswasser übergossen, um auf ALS aufmerksam zu machen. »Durch den Kälteschock stellt sich kurz ein Gefühl ein, das die Patienten immer haben: Man ist gefangen im eigenen Körper.«

»ALS-Patienten haben keine Zeit!«

Bei Robert begann die Erkrankung, wie bei der bulbären Variante üblich, mit starker Speichelbildung und Sprachverlust. Nun wandern die Lähmungserscheinungen im Körper abwärts. Weil er die Treppenstufen nach oben nicht mehr bewältigt, hat seine Frau ihm ein provisorisches Bettenlager unten im Wohnzimmer aufgebaut. Das beantragte Pflegebett ist noch nicht eingetroffen. Auch die Erhöhung des Pflegegrades wurde zunächst abgelehnt. »Aber ALS-Patienten haben keine Zeit!«, bedauert Anke. Sina nickt: »Das hören wir auch von anderen Betroffenen: Bis bestimmte Hilfsmittel wie Rollstuhl, Sprachassistent oder auch pflegerische Unterstützung endlich bewilligt werden, ist es oft zu spät.« Anke versichert, dass sie gern zu Hause bleiben und ihren Mann rund um die Uhr pflegen würde. Aber ohne Lohnausgleich sei dies nicht möglich. »Uns würde schnell das Geld ausgehen. Was soll ich tun?«

»Man wächst mit den Anforderungen«

So gesehen hatte die Mutter von Sina Bürger noch Glück im Unglück. »Meine Schwester ist examinierte Pflegefachkraft, sie wusste, was zu tun ist und konnte mich anleiten«, erzählt Sina. »Trotzdem … Der eigenen Mutter ein Zäpfchen geben zu müssen, die Wunde der Nahrungssonde zu reinigen – das alles war schon heftig. Aber was muss, das muss.« Sie zuckt mit den Schultern. »Man wächst mit den Anforderungen.« Um sich seelischen Beistand zu holen und mit anderen Angehörigen auszutauschen, suchte Sina im Internet nach Selbsthilfegruppen. So lernte sie Ines Langs, Jutta Schultz und Martina Neubauer kennen. Bald kam die Idee auf, einen Flyer zu erstellen, um Betroffenen eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben. »Auch wollen wir das Thema ALS stärker in die Öffentlichkeit bringen und langfristig erreichen, dass die Politik mehr Gelder in die Forschung fließen lässt.«

Kostenfreier Flyer bündelt die wichtigsten Infos

Die Frauen bildeten einen ehrenamtlichen Arbeitskreis, befragten Erkrankte sowie deren Familien nach ihren Erfahrungen: Was wäre für sie direkt nach der Diagnose wichtig gewesen? »Mit den gesammelten Daten hätte man ein Buch schreiben können. Wir haben erst einmal sortiert, geordnet und die wichtigsten Infos zusammengefasst. Aus diesen hat mein Bruder Jens dann eine kleine Broschüre erstellt.« Die Druckkosten übernahm der Verein ›Chance zum Leben – ALS e. V.‹, der Betroffene in vielfältiger Weise unterstützt und Spenden für die Erforschung der seltenen Erkrankung sammelt. Der Flyer liegt nun in vielen Krankenhäusern, ALS-Ambulanzen, Sanitätshäusern, Arztpraxen und Apotheken zum kostenfreien Mitnehmen bereit.

»Genieße jeden Tag!«

Zum Abschluss möchten wir von Robert noch wissen, welchen Rat er Neu-­Patient*innen und ihren Liebsten mit auf den Weg geben würde. Kann es in Anbetracht der Schreckensdiagnose ALS überhaupt eine ermutigende Botschaft geben? Aber Robert muss nicht lange überlegen, und diesmal sind seine Worte klar zu verstehen: »Genieße jeden Tag!« Er selbst sei kurz nach der Diagnose noch einmal mit Frau und Kindern in den Urlaub gefahren, erzählt er. Vier Wochen verbrachte die Familie auf ihrer Lieblingsinsel Lesbos – wertvolle gemeinsame Zeit. »Das sollte man ohnehin immer machen, auch wenn man gesund ist«, findet Anke. »Denn man kann ja nie wissen, was morgen sein wird.«

Petition

Die tödliche Krankheit ALS wurde bereits vor über 150 Jahren entdeckt. Trotzdem konnte in der Forschung bisher kein entscheidender Durchbruch erzielt werden. Um die Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern und die Zulassung eines vielversprechenden neuen Medikaments zu beschleunigen, wurde im Dezember 2022 die große Online-Petition ›Stoppt ALS! Auch wir haben ein Recht auf Leben!‹ gestartet. Zur Petition >

Weitere Infos: www.chancezumleben-als.de

Facebook Logo  diese Seite auf Facebook teilen0