Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

Es liegt was in der Luft

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Jule Springwald erzählt

Vor drei Tagen bekam ich Luftpost von meiner Enkelin Hannah. Dabei ist sie nicht etwa weit weg im Urlaub oder gar ausgewandert, nein, sie ist zu Hause. Auch ist mir schleierhaft, woher sie das Wort ›Luftpost‹ kennt, das heute doch so gar nicht mehr geläufig ist, aber sie muss es wohl irgendwo aufgeschnappt haben.

Wir waren im Garten, als Hannahs Papa rief: »Oma Jule, du bekommst gleich Luftpost von Hannah. Schau doch mal auf der Terrasse nach!« Welche Oma könnte da widerstehen? Ich jedenfalls eilte zur Terrasse und blickte suchend umher, aber nirgends lag der mir noch bekannte hellblaue Umschlag mit dem charakteristischen gestreiften Rand.

Ich drehte mich um und entdeckte unter dem Tisch eine Schwalbe, also einen Papierflieger. Als ich näher heran ging, sah ich Buchstaben auf dem Papier. Und tatsächlich, da stand ganz deutlich ›POST VON HANNAH‹ in großen Druckbuchstaben. Sie ist ja erst fünf Jahre alt und kommt im Sommer erst in die Schule. Ich faltete den Flieger auseinander und las: »LIEBE OMA, SCHÖN DASS ES DIR GUT GEHT. KÖNNEN WIR DICH MAL WIEDER BESUCHEN? HANNAH + PAUL«. (Sie hatte ihrer Mama den Brief diktiert, damit diese ihn für sie vorschreiben konnte. Dann hatte sie alles abgeschrieben und war ganz stolz auf ihr Werk.

Natürlich antwortete ich sofort, weil Luftpost ja besonders eilig ist. Ich bastelte eine Schwalbe, allerdings ein kleineres Modell und schickte meine Antwort über die Mauer: Ich bedankte mich für die Post und schrieb, dass sie und Paul mich immer besuchen dürften, wenn ich zu Hause bin.

Nun hatte ich ja erwartet, dass einer solch eiligen Anmeldung auch sofort ein Besuch folgen würde. Aber weit gefehlt! Die Kiddies von heute sind so im Terminstress, dass sie gerade gar keine Zeit für Omas haben, daher wohl auch die Luftpost, weil die weniger Zeit braucht.

Als ich gestern morgen auf der Terrasse nachschaute, ob Post für mich angekommen sei, entdeckte ich auf der Mauer eine Stofftasche. In dem Beutel befanden sich drei kleine Stofftiere, alle ›verletzt‹: Bei dem einen war ein Ohr angerissen, bei dem zweiten gar gänzlich abgerissen, aber noch vorhanden. Den dritten hatte es besonders schwer getroffen: Ein Auge fehlte ganz. Da den Tieren keinerlei Nachricht mitgegeben worden war, nahm ich an, dass es sich um dringende Notfälle handelte, deren Zustand die Besitzer so in Panik versetzt hatte, dass ihnen die Worte fehlten. Vermutlich nahmen sie an, dass eine Oma, die immer Zeit für sie hat, sich auch die Zeit für ihre kleinen Gefährten nimmt.

Eine Oma kann ja bekanntlich alles: Pudding kochen, Tränen trocknen, singen, spielen, tanzen und eben auch Kuscheltiere heilen. Dieses grenzenlose Vertrauen wollte ich natürlich nicht enttäuschen und bereitete sofort den Behandlungsraum vor. Geduldig warteten die kleinen Patienten, bis sie an der Reihe waren. Nach gelungenen Operationen saßen sie im Aufwachbereich. Da sie mir etwas benommen vorkamen, behielt ich sie eine Nacht zur Beobachtung bei mir. Heute morgen konnte ich sie entlassen. Nun sitzen sie auf der Mauer und warten darauf, abgeholt zu werden.

Mal sehen, was mich heute erwartet ...

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