Omas gehen nicht in Rente
Oma war eine tolle Frau – Jule Springwald erzählt
Wann immer jemand gebraucht wurde, war sie zur Stelle. Dabei kam es nie darauf an, wofür gerade Hilfe gebraucht wurde. Sie sprang als Babysitter ein, wenn die Eltern ins Kino gehen wollten, sie bewachte die Kinderschar, wenn Mama einkaufen oder zum Friseur wollte, sie strickte unermüdlich Socken und Pullover, schmierte die Stullen für die Fahrt in die Ferien, selbst wenn sie zu Hause blieb, war Beifahrer bei langen Fahrten, ohne sich über die Fahrweise des Fahranfängers zu mokieren, sie beaufsichtigte den Burgenbau im Sandkasten und saß sogar sonntags, wenn sie ihre guten Sachen anhatte, am Rand des Sandkastens und grub eifrig mit, damit die Kinder rechtzeitig zum Essen mit dem Bau fertig wurden … Für keine Arbeit und kein Spiel war sie sich zu schade.
Sonntags gab es schon fast traditionell Mittagessen bei den Großeltern, frische Suppe mit selbst gemachten Markklößchen und Eierstich, anschließend Sonntagsbraten mit Kartoffeln und Gemüse oder Salat, und dann natürlich selbst gekochten Vanillepudding mit Eischnee und grünem Wackelpudding. Wenn man rechtzeitig da war, fand man auf dem Küchenbüffet noch ein Probiertellerchen mit Pudding oder – das höchste aller Gefühle – den Puddingkochtopf zum Ausschlecken. Später gab es dann selbst gemachte Waffelherzen mit und ohne Rosinen und natürlich mit selbst gekochter Marmelade und Schlagsahne.
Wenn der Garten bestellt wurde, war Oma immer dabei. Sie jätete Unkraut, grub die Beete um und pflanzte und säte, vereinzelte die Salatköpfe und so weiter. Sie achtete darauf, dass die Kinder nicht etwa zu früh an den jungen Möhren zogen, aber wenn das dann doch mal vorkam, schimpfte sie nicht, sondern lachte nur. Sie passte auf, dass weder Äpfel noch Stachelbeeren zu früh probiert wurden, erklärte die verschiedenen Birnen- und Apfelsorten und hütete die langen Reihen mit Erdbeeren, bis sie reif genug zum Naschen waren. Alles, was es an Obst und Gemüse im Garten gab, wurde eingeweckt, um es dann bei Bedarf wieder aufzuwecken.
Auch Tiere gab es bei Oma: am Haus den Hühnerstall, vor dem Garten den Hundestall und ganz hinten im Garten das Taubenhaus mit den Brieftauben. Die Tauben waren Opas Steckenpferd und wurden ausschließlich von ihm versorgt. Später kamen dann noch ein paar Schafe dazu, die Oma dann morgens aus dem Schafstall am Haus in den Obstgarten brachte, wo sie sie an Pflöcken anband, damit sie nicht zu viel Schaden anrichteten. Damals war die Oma schon weit über 80 Jahre alt.
Wenn der Frühjahrsputz anstand, war Oma mittendrin statt nur dabei. Sie putzte die Fenster, schrubbte die Böden, lüftete Betten und Teppiche und wurde niemals müde. Sie versorgte die Putzmannschaft – also Mama und Kinder – mit Kartoffelsalat und Würstchen oder Reibeplätzchen, wobei eigentlich niemand wusste, wann sie das zubereitet hatte. Wenn die Familie in die Ferien fuhr, backte Oma einen großen Kuchen, die Hälfte Marmor-, die andere Hälfte Zitronenkuchen, damit am Urlaubsort sofort etwas zu essen da war.
Zu Ostern und Weihnachten bestellte sie Unmengen an Schokolade bei einem großen Kaffeeröster in Bremen. Zu Nikolaus gab es immer neue Pantoffeln, zu Weihnachten neue Schlafanzüge und ein Spielzeug. Zu Ostern wurden die Ostereier immer im Garten versteckt, egal welches Wetter gerade war, und die Eier waren selbstverständlich von den eigenen Hühnern und selbst gefärbt.
Schnittblumen aus dem Garten liebte sie, freute sich aber genauso über ein selbst gepflücktes Sträußchen aus Gänseblümchen, Klee und Butterblumen. Im abgeteilten Gärtchen mit dem Frühbeet für Salat war auch die Bleiche für die weiße Wäsche.
Der Friedhof, auf dem Opa begraben war und wo ein Stein an die beiden im Krieg gefallenen Söhne erinnerte, wurde von ihr – manchmal in Begleitung eines der Kinder – liebevoll gepflegt. Die Kinder staunten nicht schlecht, wenn sie nach stundenlanger Grabpflege über die vierspurige Straße rannte, um den Bus noch zu bekommen, der gegenüber gerade in die Bushaltestelle einfuhr.
Irgendwann erzählten Mitschüler den Kindern, dass ihre Großeltern bald in Rente gehen würden. Auf Nachfrage erfuhr man, dass sie nun alt genug seien, lange genug gearbeitet hätten und noch etwas vom Leben haben wollten. Das war doch eine seltsame Erklärung. Argwöhnisch wurde nun die Oma beobachtet. Sie kam den Kindern kein bisschen alt vor und war doch immer fröhlich. Aber nach einer Weile merkte man allerdings, dass ihr die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand ging. Auch legte sie sich neuerdings öfter mal nachmittags aufs Sofa, weil ihre Füße schmerzten. Aber immer noch war sie fröhlich und allzeit bereit für Spaß und Hilfe.
Dann eines Tages, sie hatte gerade wieder die Schafe in den Garten gebracht, stolperte sie über den Linoleumboden, der am Kücheneingang etwas kaputt war. Was für Oma ganz untypisch war: Sie stand nicht sofort auf. Als der Arzt im Krankenhaus einen Oberschenkelhalsbruch feststellte und Oma ein neues Hüftgelenk bekam, verlor sie ihren Lebensmut. Sie sagte nur: »Wenn ich nicht mehr richtig laufen kann, will ich nicht mehr leben.« Die Kinder sagten: »Oma, dann kannst du doch in Rente gehen!« Sie antwortete: »Omas gehen nicht in Rente. Wer soll denn dann auf euch aufpassen?«
Drei Wochen später starb Oma an einer Lungenembolie. Seitdem passt sie von oben auf.
Omas gehen eben nicht in Rente.
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