Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Junges Castrop-Rauxel

›Teilhabe statt Ausgrenzung‹

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Zu Gast bei der Hausgemeinschaft Ickern

Seit gut fünf Jahren leben Menschen unterschiedlichster Generationen in einem Mehrfamilienhaus in der Innenstadt von Ickern ›gemeinsam unter einem Dach‹. Das seinerzeit erste Haus seiner Art wird von der ›Lebenshilfe Castrop-Rauxel, Datteln, Oer-Erkenschwick, Waltrop e. V.‹ verwaltet und ist eine integrative Wohngemeinschaft mit insgesamt 13 Wohneinheiten. In fünf davon sind insgesamt neun erwachsene Menschen mit ›Handicap‹ zu Hause und werden von sieben Mitarbeiter*innen der Lebenshilfe unterstützt. Eine »bunte Gemeinschaft«, wie Betreuerin Christel Brandt sagt, die zum Gespräch in großer Runde am Tisch in der WG-Wohnung im Erdgeschoss geladen hat. »Wir wollen uns hier nicht abschotten, brauchen uns nicht zu verstecken«, erklärt ihre Kollegin Elke Meißner das Motto ›Teilhabe statt Ausgrenzung‹. Und so haben sich auch einige ihrer Klient*innen aus der WG und den benachbarten Wohneinheiten bereit erklärt, über sich und das Leben in der Hausgemeinschaft zu berichten.

Von Tanz- bis Kraftsport, vom Weben bis Website

Justin tut das spürbar gern. Der gesellige und kommunikative WG-Bewohner ist engagiertes Mitglied beim Verein ›Mein Ickern e. V.‹, verteilt zum Beispiel Kunstkarten für den Verein und war bei der letzten großen Veranstaltung als Park-Einweiser aktiv. »Auch beim Einkaufen sprechen mich viele an«, erzählt er. Als Robin, der nebenan in einer eigenen Wohnung lebt, hinzukommt und mir grinsend seinen Oberarm entgegenstreckt, missverstehe ich das als Begrüßungsgeste junger Leute, die ich unbeholfen zu entgegnen versuche. »Nein, nein«, werde ich lachend belehrt, »Sie sollen seinen Bizeps anfassen!« Wow, eindeutig ein Kraftsportler!
»Alle hier haben nicht nur ihre Fähigkeiten, sondern auch unterschiedliche Interessen und Hobbies«, weiß Christel Brandt. Während etwa Vanessa derzeit einen Jazz-Tanz-Kurs absolviert, hat ihr Freund Benjamin (Ben), mit dem sie gemeinsam nebenan in einer Paar-Wohnung lebt, ein ganz anderes und ungewöhnliches Steckenpferd: Er beherrscht nämlich das alte Handwerk des Webens – und produziert mit Freude und Können z. B. Teppiche und Tischläufer. Ein weiteres Talent trat zutage, als die Hausgemeinschaft im vergangenen Oktober für drei Wochen einen mobilen Hühnerstall im Garten hatte, um den es sich gemeinsam zu kümmern galt: »Da war Ben der Hühnerpapa«, erzählt seine Freundin lächelnd.

Hausgemeinschaft mit unterschiedlichen Charakteren

Sven spielt zweimal wöchentlich Fußball bei den ›Waltrop Vikings‹. Der gebürtige Castroper war der erste Bewohner hier in der WG, kommt während unseres Gesprächs vom Friseur nach Hause, bleibt dann aber nur kurz am Tisch und möchte auch später nicht mit aufs Gruppenfoto. Nicht jeder sucht die Öffentlichkeit – und auch das ist natürlich in Ordnung in einer Hausgemeinschaft mit unterschiedlichen Charakteren. Till hingegen ist ein echter Medienprofi – und Tausendsassa. Der BVB-Fan segelt gern, ist Elektro-Rollstuhl-Hockey-Bundesligaspieler, IT-Spezialist und »ein Tiktok-Star«, wie die anderen stolz berichten. Über 54.000 Menschen folgen ihm auf diesem Videoportal, auf dem überwiegend kurze (Musik-)Videoclips gepostet werden. Aufgrund seiner spastischen Cerebralparese ist Till nicht nur motorisch, sondern auch sprachlich eingeschränkt, kommuniziert bevorzugt über sein Smart-Phone, macht aber auf seiner eigenen Homepage ebenso wie auf seinem Tiktok-Kanal deutlich: »Ich bin körperlich nicht so fit, kann aber klar denken!« Übrigens kann man sich auch als Nicht-Tiktok-Mitglied die bemerkenswerten Clips ansehen und anhören, in denen sich Till als selbstbewusster, engagierter und überaus humorvoller junger Mann zeigt (www.tiktok.com/ [at] till.martenka).

Unterschiedlichste gemeinsame Aktionen machen den Alltag lebendig

Neben den individuellen Freizeitaktivitäten gibt es in der Hausgemeinschaft Ickern aber auch immer wieder unterschiedlichste gemeinsame Aktionen und Projekte, vom Radfahrtraining mit dem ADFC bis zur Einladung von Politikern vor der letzten Kommunalwahl. Doch es geht nicht nur um eigene Teilhabe, sondern immer wieder auch darum, etwas für die Allgemeinheit zu tun: »Wir haben mit Vertretern der Stadt am Rundgang zur Barrierefreiheit in Ickern teilgenommen, bei der Aktion ›Platzverweis dem Dreck‹ mitgemacht und mit unserem Projekt ›Ein Zuhause für Insekten‹ sogar den städtischen Umweltpreis gewonnen«, erzählt Christel Brandt. Natürlich gibt es für die Bewohner der Hausgemeinschaft Ickern auch den ganz normalen Alltag. Wochentags sind sie in der Regel in Werkstätten für Menschen mit Behinderung tätig. »Auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist schwierig für unsere Klienten«, weiß Elke Meißner und bedauert, dass die Wertschätzung für die Werkstatt-Arbeit sich nicht in einer höheren Entlohnung niederschlägt als einem ›Taschengeld‹. »Aber die Arbeitgeber haben dafür oft auch zu wenig Aufträge«, wirft Benjamin ein, und Elke Meißner sagt: »Stimmt auch wieder.« Konkret hat Ben aber ein ganz anderes Problem, da er den Arbeitsweg ebenso wie Sven mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigt: »Am Dienstag kann ich wahrscheinlich nicht zur Arbeit, weil bei den Verkehrsbetrieben gestreikt wird.«

Selbstständigkeit unterstützen

Alltag gibt es auch zu Hause, und hier bedeutet das zum Beispiel einkaufen, putzen und Wäsche waschen. »Dafür gibt es einen Wochenplan«, erklärt Christel Brandt, und Elke Meißner erläutert: »Betreutes Wohnen bedeutet ja nicht, dass wir den Klienten alles abnehmen, im Gegenteil. Es geht darum, dass wir die jungen Menschen, die in der Regel vorher in ihrem Elternhaus gewohnt haben, nun bei einem möglichst selbstständigen Leben unterstützen.« Und das kommt offenbar gut an, denn die Bewohner fühlen sich wohl in der Hausgemeinschaft, einem Zuhause mit Perspektive: »Ich bleibe für immer hier«, ist sich Justin schon jetzt sicher.

Lebenshilfe Castrop-Rauxel, Datteln, Oer-Erkenschwick, Waltrop e.V.
https://lebenshilfe-waltrop.de/hausgemeinschaft-ickern/

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