Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

Die alte Burg ODER Meistergeister

Foto(s) zum Vergrößern anklicken

Quellenangabe in den Vergrößerungen

Jule Springwald erzählt

Mitternacht! Es schepperte zwölf Mal.
»Wenigstens der Wecker funktioniert noch. Fragt sich nur, wie lange noch!«, gähnte das alte Gespenst Walter 1. Walter 2, der Sohn von Walter 1, lachte: »Von mir aus könnte das Ding ruhig mal nachgehen«, und erntete damit einen tadelnden Blick von seiner Mutter Sabine.

»Als dein Vater vor 250 Jahren die Burg erbaut hat, hörte sich die Glocke der Turmuhr wunderschön an«, sagte sie. »Und er hat immer alles gut gepflegt. Ich muss gestehen, mein Sohn, dass auch du, dein Sohn Walter 3 und dein Enkel Walter 4 sich alle Mühe gegeben haben, alles in Ordnung zu halten. Aber schon Walter 5 hatte mehr Flausen im Kopf, als gut für ihn und besonders die Burg war. Immer nur Feste und Gelage, das kann ja gar nicht gut gehen. Und Walter 6 war ein ›würdiger‹ Nachfolger, er hat es noch doller getrieben. Das verkraftet der größte Burgschatz nicht. Die Walters von der Burg wurden immer ärmer und hatten kein Geld mehr, die kleinen Gebrauchsspuren beseitigen zu lassen. Weil sie ihr Dienstpersonal nicht mehr bezahlen konnten, wollte auch niemand mehr für sie arbeiten. Essen und Trinken war kein Problem, die Jagdbeute reichte immer aus, dass die Walters satt wurden, und Quellen gibt es überall in den Wäldern. Aber die Walters fingen an, argwöhnisch und neidisch auf ihre Nachbarn zu schauen, bei denen große Feste noch die Regel waren. Weil sie aber selbst zu faul zum Arbeiten waren, raubten sie lieber alles, was nicht niet- und nagelfest war, wo sie es nur bekommen konnten: den Bauern das Stroh und Heu für die Pferde, auch nahmen sie ab und zu eine Kuh und ein paar Hühner mit. Vom Getreide mussten die Landleute sowieso einen Teil abliefern. Aber dieser Walter 13, der nun auf unserer Burg residiert, der ist ein regelrechter Raubritter geworden, der selbst nichts Besseres zu tun weiß, als aus lauter purem Neid die Nachbarburgen kaputt zu machen und dann mit seinen Kumpanen auf seinen ›Erfolg‹ anzustoßen.«

»Das stimmt«, ächzte es aus dem Hintergrund. Die drei Gespenster schauten sich verwundert an und fragten: »Wer war das denn? Wer spricht zu uns? Zeig dich!«

Ein raues Lachen ertönte: »Ich bin es, die Burg! Und mich stört es schon lange, dass sich niemand mehr um mich kümmert. Letzte Woche sind sogar zwei Zinnen auf einmal in den Burggraben gefallen. Denkt ihr, jemand repariert es? Nein, keine Zeit, keine Lust, wir müssen woanders etwas kaputt machen. Und niemand kommt mehr zu Besuch, wenn man mal von den Kumpanen vom Burgherrn Walter 12 – nein! – 13 absieht, niemand sonst will herkommen, weil ich immer schneller verfalle. Schaut euch nur die Bilder an, die früher von mir gemalt wurden. Sie hängen im sogenannten Rittersaal, eins prächtiger als das andere, leider total zugestaubt. Von jedem Dach wehte eine bunte Fahne, von den Türmen herab erklangen Trompeten und Fanfaren, um die zahlreichen Gäste zu begrüßen. Und nun? Kein Bläser traut sich mehr auf einen Turm, kein noch so kleines Fähnlein ist zu sehen. Neuerdings meiden mich sogar die Eulen, Raben, Dohlen und Störche, und erst kürzlich hörte ich eine Fledermaus sagen, dass sie sich für den Winter ein neues Quartier suchen will, weil die Gemäuer einsturzgefährdet seien. Sogar die Mäuse und Ratten werden immer weniger, obwohl die letzte Katze im Sommer ausgezogen ist. Wenn nicht bald etwas geschieht, bin ich in ein paar Jahren nur noch Geschichte, eine Ruine … Aber vielleicht kommen dann wenigstens ein paar Touristen, die mich ansehen wollen.« Sie seufzte tief. »Was kann man nur tun?«

»Ganz ehrlich? In einer Ruine mag ich nicht spuken; da bin ich ja dauernd erkältet!«, rief Walter 2. »Wir müssen uns eine andere Burg suchen.« »Na, na, mein Sohn, wir Walters von der Burg lassen uns doch nicht von hier vertreiben, noch dazu von unserer eigenen Familie. Wir berufen den Gespenstischen Familienrat ein. Ich habe eine Idee«, antwortete Walter 1. »Wenn dein Vater eine Idee hat, ist das meistens schon ein fertiger Plan«, warf Sabine ein. »Lasst uns schnell alle wecken!«

Sabine sollte recht behalten. Walter 1 hatte einen Plan, und was für einen! Und in dem sofort einberufenen Gespenstischen Familienrat, dem nicht weniger als zwölf Walters von der Burg samt den Burgdamen beiwohnten, wurde im Eilverfahren beraten. Zwar wich man von dem von Walter 1 geplanten Gespensterturnier ab, und auch die Idee eines Gespensterstreiks wurde verworfen, aber das Ergebnis konnte sich trotzdem sehen lassen. Walter 1 trug es der Versammlung zum Schluss noch einmal vor.

Er verkündete feierlich: »Ergebnis des Gespenstischen Familienrates von heute: Zuerst laden wir mal alle uns bekannten Gespenster ein, sich auf der Walterburg zu treffen. Für das Treffen, das gewaltige Spektakulum, lassen wir die Burg in altem Glanz erleuchten. Dadurch wird zwar nicht direkt etwas repariert, aber es wird ein Zeichen gesetzt. Und jeder Gast darf seufzen und schaurig jammern, soviel er mag. Für die Beleuchtung brauchen wir sehr viel Gespensterlicht. Wir hier auf der Burg sind ja schon 24 Ahnen mit dem ganzen Gefolge aus unserer Zeit, und für den Anfang reicht das ja, damit alle wissen, wohin sie kommen sollen. Aber damit es richtig toll aussieht, brauchen wir alles Licht, das wir auftreiben können. Darum haben wir beschlossen, dass jeder Gast sein eigenes Gespensterlicht mitbringt, und diese Lichter lassen wir dann von allen Mauern, Türmen und Dächern der Burg leuchten. Das heißt nun konkret: Wir laden alle unsere Freunde von den Nachbarburgen mitsamt Gefolge ein. Außerdem finde ich, sollten wir auch die Gespenster einladen, die derzeit nicht auf Burgen spuken, sondern in Bauernhöfen und Kirchtürmen, und auch die heimatlosen Gespenster sollen eingeladen sein. Also auf, auf! Als Termin ist der nächste 13. gedacht, und bis dahin sind es nur noch wenige Nächte.« Mit dieser Rede beschloss Walter 1 den Gespenstischen Familienrat. Da schepperte die Turmuhr ein Mal, und die Geisterstunde war vorbei.

In den nächsten Nächten war es ungewöhnlich ruhig auf der Burg, so ruhig, dass es Walter 13 schon unheimlich fand. Kein schauriges Lachen, kein Stöhnen und Seufzen und kein Kettenrasseln war zu hören. Die Gespenster waren ja alle unterwegs, um die Gäste für den 13. zu laden.

Sabine war ganz aus dem Häuschen, als sie ihrer besten Freundin Luise vom Kirchturm von dem Plan berichtete. Sie strahlte: »Endlich wieder ein großes Fest! Lange haben wir uns nur still geschämt, dass unsere Burg so zerfiel, aber nun gehen wir andere Wege. Und wenn man es recht bedenkt, ist ein Spektakulum genau das richtige, und wenn ich mir nur vorstelle, wie alles geisterhell wird. Es wird umwerfend werden, und damit meine ich nicht für die Mauern! Die Männer hätten ja lieber ein Gespensterturnier gehabt, aber dabei wäre sicher noch mehr kaputt gegangen.«

In den beiden Nächten vor dem Gespensterspektakulum wurde es minütlich unruhiger auf der Burg, weil nach und nach die Gäste eintrafen. Walter 13 hatte sich schon sehr an die Stille der vergangenen Tage gewöhnt und dachte, er müsse doch mal nachschauen, was da los sei. Aber da er müde war und auch nicht der Mutigste, blieb er doch lieber im Bett liegen und zog sich die Decke über den Kopf. In der dritten Nacht hielt er es aber nicht mehr aus. Er stand auf, zog sich eine warme Weste und die Filzpantoffeln an, nahm sein Nachtlicht und trat auf den Gang, gerade als es Mitternacht schepperte. »Gruselig«, dachte er bei dem Geräusch, »das muss dringend geändert werden, morgen früh geh ich zum Glockengießer, er soll sehen, ob er die Glocke reparieren kann.«

Aber er ahnte nicht, was noch alles kommen sollte. Mit dem letzten Scheppern ging ein Windzug – begleitet von Jammern und Stöhnen – durch die Burg und löschte die Kerze in seinem Nachtlicht. Ihm wurde ganz unheimlich zumute. Dann leuchteten auf einmal die ersten Gespensterlichter auf, als er gerade auf den letzten Stufen des großen Turms ankam. Weil es aber doch ziemlich dunkel war, stolperte er über ein paar Steine, die aus den Zinnen gebrochen waren. »Das muss repariert werden«, dachte er wieder. »Gleich morgen gehe ich zum Baumeister, der wird es schon richten.«

Als er die Treppe zum Rittersaal hinunterging, fiel ihm auf, dass ein paar Stufen arg beschädigt waren. Im Rittersaal staunte er nicht schlecht, denn Gespensterlicht leuchtete gar durchs Dach, weil an vielen Stellen die Dachschindeln kaputt, gerissen oder weggefault waren. »Wieso ist mir das denn nicht schon viel eher aufgefallen?«, jammerte er, »jetzt kostet es ein Vermögen, alles wieder instandzusetzen.« Entsetzt rannte er auf den Burghof und dort verschlug es ihm die Sprache. Überall, auf dem Turm, den Mauern und Zinnen, auf allen Dächern und Simsen leuchteten Geisterlichter. »Was habe ich nur für eine wunderschöne Burg!«, rief er aus. »Und wie lange habe ich das gar nicht bemerkt! Jetzt will ich auch, dass alles, was ich versäumt habe, erledigt wird. Morgen schicke ich die Knappen zum Glockengießer, zum Baumeister, zum Zimmermann und auch zum Gärtner, damit alles so schön aussieht wie früher. Zum Glück hängen die Gemälde noch im Rittersaal. Und wenn alles fertig ist, will ich einen Künstlerwettstreit auf der Burg austragen lassen und das schönste Bild wird im Großen Saal hängen.« Da ging ein Raunen durch die Burg, das hörte sich ganz freundlich an.

»Er wird doch noch ein ganz richtiger Walter«, lachte Walter 1. Sabine antwortete: »So zufrieden habe ich dich seit hundert Jahren nicht mehr gesehen.« Die Gespenster begaben sich zur Ruhe und freuten sich schon darauf, demnächst wieder in einer herrlichen Burg zu spuken.

Facebook Logo  diese Seite auf Facebook teilen0