Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

Keinhorn und andere Wundersamkeiten

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Jule Springwald erzählt

Ihr müsst wissen: Einhörner werden mit einem Gedankenblitz und einem Zwinkern geboren. Es blitzt, die Einhornmutter zwinkert, und schon steht das junge Einhorn da, wunderschön golden mit einem silbernen Stern auf der Stirn, gerade dort, wo später, wenn aus dem goldenen Geburtsfell ein erwachsenes silberschimmerndes Fell geworden ist, das wundersame Horn sitzt.

Zur Geburt eines Einhorns versammeln sich alle Einhörner auf der großen Lichtung im Feenwald, um die werdende Mutter zu unterstützen und natürlich die Geburt anschließend gebührend zu feiern.

Im Feenwald ist die Aufregung groß. Nach langer Zeit wird wieder Einhorn-Nachwuchs erwartet. Die werdende Einhorn-Mama Penelope sagt schon seit einiger Zeit jeden Morgen: »Heute muss es geschehen, sonst platze ich.« Aber wer Penelope kennt, weiß auch, dass sie bei vielen Gelegenheiten ›fast platzt‹: wenn sie neugierig ist zum Beispiel, oder wenn sie sich aufregt. Auch vor lauter Vorfreude oder Langeweile hört man von ihr: »Wenn nicht bald etwas passiert, platze ich noch.« Sie könnte platzen, weil sie zu viel gegessen hat oder aber sehr hungrig ist. Sie ist also flexibel. Einige tuscheln hinter ihrem Rücken oder mit dem Huf vor dem Maul, die Gute sei doch ein wenig hysterisch. Wenn sie das hören oder auch nur ahnen könnte, würde sie wohl auch deswegen platzen. Aber eben immer nur fast. Die meisten Bewohner des Feenwaldes nehmen dieses Gerede gar nicht mehr zur Kenntnis.

Alle haben etwas mitgebracht, Geschenke und gute Wünsche für den Neuankömmling, denn das ist nun mal Brauch im Feenwald. Die Feen – aus alter Tradition – haben aus Nebelfäden eine Decke gewebt, die Vögel jede Menge Federn für einen großen Fächer gesammelt, den die Zwerge kunstfertig mit Spinnenseide gearbeitet haben. Die Nagetiere haben unter Anleitung des Bibers eine flache Holzwiege gebaut, und die übrigen Fellträger haben Haare und Wolle dafür gespendet, damit das Fohlen weich liegt. Die Quellnymphen, Wassermänner und Nixen haben Mengen und Mengen Gänsewein abgefüllt und die Kobolde ein weithin duftendes Festessen aus Waldfrüchten und Pilzen zubereitet. Die Frösche haben ein Willkommenslied einstudiert, und der Storch klappert eifrig dazu.

Plötzlich blitzt es, und Penelope zwinkert. Da steht es: ein kleines goldenes Fohlen, mitten auf der Lichtung. Aber was ist das? Alle schauen sich verwirrt an. Auf der Stirn des Neuankömmlings ist kein silberner Stern zu sehen. Und dann blitzt es noch einmal, Penelope zwinkert wieder, und nun steht da ein zweites Fohlen, ganz golden und – alle sehen ganz genau hin – mit zwei silbernen Sternen auf der Stirn. Die Einhörner halten den Atem an. Es ist ja schon mal vorgekommen, dass ein Keinhorn geboren wurde, tuscheln die Alten hinter Penelopes Rücken. Auch Zwillingsgeburten sind zwar selten, aber man hat schon davon gehört. Ein altes Einhorn glaubt sogar, sich an ein Zweihorn erinnern zu können. Es wird gemunkelt, dass zu besonderen Zeiten besondere Einhörner gebraucht werden. Aber alles auf einmal?

»Das hast du nun davon!«, ruft Penelopes Schwester Marina, »immer willst du anders sein!« Ihre Mutter fällt vor Schreck in Ohnmacht, erholt sich aber schnell, stupst Penelope und die Zwillinge freundlich mit der Nase an und sagt: »Die Situation ist unerwartet, aber zu bewältigen. Wir Einhörner sind bekannt für unsere Weisheit und Fantasie. Und Neid soll für uns immer ein Fremdwort sein«, fügt sie mit Blick auf Marina hinzu. Die schluckt eine Antwort herunter, es blitzt und sie zwinkert, und auf einmal steht da ein drittes Fohlen, wunderschön glitzerschwarz mit einem Regenbogenstern auf der Stirn. Verblüfft hören alle auf zu schwatzen, es wird mucksmäuschenstill auf der Lichtung.

Da plötzlich ertönt eine raue Stimme aus dem Hintergrund: »Die Welt ruft nach Hilfe!« Diese Stimme ist so selten zu hören, dass die ganze Einhornversammlung sich scheu umblickt. Die Stimme gehört nämlich der alten, weisen Lori, und die spricht nur, wenn es etwas wirklich Wichtiges zu sagen gibt. Heute zeigt sie sich sehr gesprächig und redet weiter. »Von Zeit zu Zeit denken die Menschen, dass sie keine Einhörner brauchen. Dann ziehen sich die Einhörner zurück. Zunächst fällt das Fehlen den Menschen nicht auf. Sie merken nicht, wie trist das Leben ohne Fantasie ist, und Weisheit brauchen sie auch nicht. Das Leben wird langweilig und eintönig, und dann werden sie unausgeglichen und unzufrieden. Was alles daraus entstehen kann, sieht man nun immer wieder. Es werden die ersten Rufe nach Veränderung und Ideen laut, und jetzt dauert es nicht mehr lange, bis die Menschen merken, dass die Einhörner nicht mehr da sind.

Nicht alle wünschen sich dann die Einhörner zurück, aber es werden immer mehr. Und diese Wünsche werden mit der Geburt neuer Einhörner erfüllt. Je mehr Stimmen nach uns rufen, desto mehr Einhörner werden geboren. Und wenn wir so sehr gebraucht werden wie heute, gibt es auch vermehrt anders aussehende Fohlen – so wie heute! –, da an einem einzigen Tag ein Keinhorn, ein Zweihorn und ein schwarzes Regenbogenhorn erschienen sind. Nur Mut, meine Einhörner, geht hinaus in alle Welt und verbreitet neue Hoffnung und Fantasie. Zeigt ihnen, dass sie anfangen können, die Welt zu verändern und neu zu erleben, wenn sie den ersten Schritt gehen. Zur Not stupst ihr sie einfach mit eurem Horn an, ganz sanft natürlich, wenn sie sich nicht trauen. Vor allem die Kinder brauchen eure Hilfe.«

»Aber wie soll ich sie anstupsen?«, fragt das Keinhorn. »Du hast die Gabe, nur durch dein Erscheinen Menschen zum Denken zu bewegen«, antwortet Lori. »Nimm die beiden anderen, das Zweihorn und das schwarze Regenbogenhorn, mit und zeigt den Menschen, wie wichtig das Zusammenhalten in schwierigen Situationen ist.«

So löst sich die Versammlung auf, und die Einhörner ziehen in alle vier Winde, um den Menschen ihre Fantasie zurückzubringen.

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