Haus am See
Jule Springwald erzählt
In meiner Kindheit erfüllten sich meine Eltern einen Traum und bauten ein Ferienhaus im Sauerland. Es war ein Ort mit 59 Einwohnern und ein paar Ferienhäusern auf der Höhe des Rothaargebirges, nicht weit von Winterberg entfernt. Es gab ein paar Bauernhöfe, zwei Gaststätten, einen winzigen Tante-Emma-Laden, eine Kapelle und sogar einen Förster. Die Bauern waren nicht nur Land-, sondern auch Forstwirte, die sich um das Wohl des Waldes und auch um die Holzernte kümmerten, außerdem wohnten dort noch ein paar Waldarbeiter oder Holzfäller. Das Dorf war von Wald und Feldern und Wiesen umgeben. Dort verbrachte unsere Familie eine lange Zeit jedes Wochenende und alle Ferien.
Zuerst beneideten uns die Mitschüler, denn so kleine Wochenendtrips oder mehrmals im Jahr Urlaub war damals in den 1960ern noch nicht die Norm.
Im Winter und auch oft zur Osterzeit hatten wir meist viel Schnee. Zunächst lernten wir Skifahren auf ›Försters Wiese‹, die gar nicht dem Förster gehörte, aber neben seinem Haus lag. Nach einigen Jahren bekam der verschlafene Ort sogar einen Skilift, fast direkt bei uns nebenan. Manchmal nahm uns der Förster auch mit zur Wildfütterung. Im Sommer und Herbst halfen wir den Bauern auf den Feldern bei der Kartoffel- und Heuernte, manches Mal erwanderten wir das Rothaargebirge oder die umliegenden Ortschaften, besuchten auch schon mal ein Schützenfest, natürlich zu Fuß nach einer längeren Wanderung durch den Wald, wobei der Rückweg schon ziemlich anstrengend sein konnte. Oft bekamen wir Besuch von Freunden und Bekannten – dann war richtig Leben im Dorf.
An einen Sommerurlaub kann ich mich noch gut erinnern. In einem anderen Ferienhaus im Dorf waren die Enkelkinder zu Gast, die in unserem Alter waren. Das war sehr schön, denn auch sie blieben die ganzen Sommerferien über dort. Und so freundeten wir uns an. Meine vier Brüder waren viel mit den beiden Jungs von dort unterwegs, und ich verbrachte die meiste Zeit mit meiner neuen Freundin. Es war sehr warm und trocken, und so bauten die Großeltern ein ziemlich großes Planschbecken auf. Wir hatten unsere Puppensachen mit in den Garten genommen und saßen auf einer Decke ›am See‹. Der Großvater baute ein kleines Zelt für uns auf, damit wir etwas Schatten hätten, weil wir gar nicht mehr dort wegzukriegen waren. So kamen wir dann auf die Idee, im Zelt zu übernachten. Zuerst hatten alle ein paar Bedenken, zwei ›kleine‹ Mädchen allein im Zelt zu lassen, aber der Garten war gut geschützt und außerdem die Gartentür zum Haus offen, wie eigentlich an allen Häusern zu der Zeit, sodass die Eltern/Großeltern es uns schließlich erlaubten.
Nun richteten wir mit viel Mühe unser ›Haus am See‹ ein, damit wir es gemütlich hatten. Natürlich nahmen wir auch etwas zu essen und zu trinken mit, und eine Taschenlampe. Zum Abendessen bekamen wir Grillwürstchen, und dann sagten wir »Gute Nacht«. Wir lagen auf unseren Luftmatratzen, sahen die Sterne einen nach dem anderen erleuchten und waren ganz stolz auf uns, weil wir kein bisschen Angst hatten. Na ja, so nach und nach wurde es uns schon ein wenig unheimlich, als es immer dunkler wurde. Aber wir hatten ja die Taschenlampe, die wir dann auch anschalteten, nachdem wir den Zelteingang geschlossen hatten. Man ahnt ja nicht, wie viele Geräusche man hört, wenn es draußen ganz still ist. Heute ist es niemals ganz still, aber damals besaßen wir kein Handy, keine Spielkonsole oder sonstiges, was Geräusche von sich geben konnte. So hörten wir die Vögel im Wald, das Rascheln der Blätter, hin und wieder lief wohl auch ein Tier dort herum. Plötzlich vernahmen wir ein leises Rauschen, und eine ›Gestalt‹ landete auf unserem Zeltdach, ein riesiges schwarzes Ungetüm, das begann, hin und her zu trampeln. Sicher wollte es uns holen, vielleicht war es auch ein Gespenst … Wir sahen uns an, packten unsere Puppenkinder und stürmten ins Haus, um uns unter der Bettdecke zu verstecken. Der Uhu, der sich einen guten Platz zur Mäusejagd auf dem Zeltdach versprochen hatte, war mindestens genauso erschrocken wie wir und flog davon.
Am nächsten Morgen wurden wir zeitig wach und schlichen uns wieder ins Zelt, und keiner erfuhr, was für Bangebuchsen wir waren.
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