Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

»Bald kommt die Zeit …«

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Jule Springwald erzählt

… begann Opa, der Zwergenälteste im Zauberwald. Seine beiden Kinder verdrehten die Augen, und die Enkelkinder fragten: »Welche Zeit?« »Pssst, leise, sonst kann Opa sich nicht erinnern, was er sagen wollte«, flüsterte Oma. Sie kannte ihn gut, was ja nach 357 Jahren auch so sein sollte. Aber jetzt gerade irrte sie sich.

»Die große Zeit der Stille«, antwortete Opa. »In unserem wunderbaren Zauberwald wird es ganz leise werden. Das war schon immer so, und das wird auch so bleiben.« »Ja«, sagte Oma, »manches ändert sich nie, und das ist auch gut so.«

»Meinst du wirklich?« fragte der ältere Sohn. »Veränderungen können auch gut sein.« Der jüngere Sohn, der extra zum allherbstlichen Familientreffen aus der Gegend jenseits des Flusses nach Hause gekommen war, pflichtete seinem Bruder bei: »Wo ich lebe, ist jetzt schon alles anders als hier. Und ich möchte sagen, um vieles besser.«

Opa öffnete den Mund, aber er hatte vergessen, was er sagen wollte. Er blickte traurig seine Söhne an und sagte: »Ich verstehe nicht, was ihr meint. Ich dachte, wir wollten etwas gemeinsam tun. Wenn ich nur wüsste, was das war.« Verzweifelt rieb er sich die Stirn und schüttelte den Kopf. Die Enkel begannen zu kichern, und ihre Eltern redeten nur noch von der schönen neuen Welt. Opa und Oma kamen sich vor, als gehörten sie nicht dazu. Sie waren verwirrt, dass die jungen Leute so leicht die Veränderungen der Welt akzeptierten, als wäre vorher alles schlecht gewesen.

Das hatte damit begonnen, dass der ältere Sohn im Sägewerk in der Stadt anfing, anstatt wie sein Vater im Zauberwald als Handwerker zu bleiben. Zu mühsam hatte er das gefunden. Und der jüngere war so weit weggezogen, dass sein Vater ihn nur zwei Mal im Jahr zu sehen bekam. Was er arbeitete, wusste er nicht einmal genau. Das wollte Opa nicht in den Kopf. Und nun sollte nicht einmal der Wald für die große Zeit der Stille vorbereitet werden. Opa beschloss, Oma um Rat zu fragen, die wusste meistens, was zu tun war. Aber Oma sagte erst mal gar nichts, denn sie war über ihrem Strickstrumpf eingenickt.

Als abends alle nach Hause gingen, hatten sie nicht über die Arbeiten im Wald gesprochen, obwohl viel geredet worden war. Opa und Oma waren gar nicht mehr zu Wort gekommen, und als Opa noch mal nachfragen wollte, sagte Oma nur: »Kommt Zeit, kommt Rat, schließlich leben wir im Zauberwald. Ich hab’ da so einen Plan.« So gingen die beiden zu Bett.

Am nächsten Morgen wurden sie von einem Höllenspektakel geweckt. Die Zugvögel wollten sich für dieses Jahr verabschieden. Sie zwitscherten und lärmten durcheinander: »Es wird Zeit, es wird kalt, es kommt der Winter mit großen Schritten. Und nirgends im Wald ist eine Futterstelle fertig. Habt ihr uns vergessen?« Erschrocken antwortete Opa: »Oh, ich wusste doch, dass ich noch etwas erledigen muss. Aber in diesem Jahr habe ich keine Hilfe.« Da rief Oma: »Mach dir keine Sorgen, wir leben doch im Zauberwald.« Und sie sagte zu den Zugvögeln: »Bitte schickt mir doch noch schnell die Spatzen her.«

Als die Spatzen eintrafen, erklärte sie ihnen den Plan, und die Vögelchen flogen pfeilgeschwind in alle Richtungen davon. Opa blickte nur verwundert hinterher und lachte: »Na, das war ja ein toller Plan! Großartige Hilfe, muss ich sagen!« Aber plötzlich knackte es in den Büschen und trampelte es auf allen Wegen. Die Äste der Bäume rauschten wie im Sturm. Und dann sah er sie: Hirsche mit ihren großen Geweihen und Rehe mit den kleinen Gehörnen, Füchse, Wildschweine, Hasen, Dachse, Eichhörnchen und Wiesel, sogar ein Wolf hatte sich eingefunden. Und auf allen Bäumen saßen die Vögel, die nicht in den Süden gezogen waren. Sie alle standen und saßen nun bereit, um den Zwergen bei der Arbeit zu helfen. So trugen nun die Hirsche große Strohballen zu den Futterstellen, und die Rehböcke brachten Heu dorthin. Der Handkarren wurde mit Kastanien, Eicheln und Nüssen beladen, und der alte Keiler, der sonst nur Furcht und Schrecken verbreitete, ließ sich vor den Wagen spannen, um ihn zu den wichtigen Plätzen zu ziehen, wo dann die kleineren Tiere die Fracht verteilten. Der rote Milan griff mit seinen großen Klauen eine Garbe vom Wildweizen und stellte sie am Waldrand auf, und die Habichte und Bussarde folgten seinem Beispiel.

Die beiden alten Zwerge sahen nur zu. »Siehst du?« fragte Oma. »Im Zauberwald regelt sich alles; das war schon immer so, und das bleibt auch so. Die große Zeit der Stille kann kommen.« »Ja«, sagte Opa zufrieden, »wir müssen begreifen, dass die Welt sich für die jungen Leute ändert, aber sie müssen verstehen, dass es für uns gut ist, wenn alles beim Alten bleibt.«

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