Mitten aussem Leben ODER Buchtipp der etwas anderen Art
Geburtstag! Der Postbote klingelt – hurrah: ein Päckchen von Mutti! Neugierig öffne ich es, und nur wenige Sekunden später knallt mein Kiefer vor Überraschung schier auf den Boden. ›Meine Mutter, das Alter und ich‹.
Moment einmal, Mutti. Du (78 Jahre ›alt‹) schenkst mir (58 Jahre ›jung‹) ein Buch, in dem es offensichtlich um die Pflege einer Mama geht? Was soll mir das sagen? Möchtest du damit andeuten, dass du demnächst wieder in den Ruhrpott ziehst und statt von Altenpflegern lieber von deiner Tochter betreut werden willst? Soll ich bereits jetzt lernen, was ich zu tun und zu unterlassen habe? Oder teilst du mir indirekt mit, dass du befürchtest, demnächst pflegebedürftig zu werden? Du doch nicht!
Ich greife zum Telefon und rufe in Bad Reichenhall an. »Nein, Molle, hier geht es nicht um dich und mich«, lacht Mutti. »Ich kenne halt die Autorin aus meiner Zeit in Brüssel und bin schlichtweg beeindruckt, wie toll sie schreibt. Mein Tipp: Lies es einfach, und dann sagst du mir, wie es dir gefällt.« Mache ich!
Wenn Mutter und Tochter die Rollen tauschen ...
Fazit: Ich bin begeistert, gerührt, geschockt und geflasht. Und genau diese teils völlig widersprüchlichen Emotionen machen das Buch aus. Emotionen, die Katja Jungwirth im Zusammensein mit ihrer Mutter empfindet. Diese ist schwer erkrankt – und wird dadurch ihrer Unabhängigkeit beraubt; die Krankheit macht sie müde, depressiv, manchmal aber auch erstaunlich gelassen. Die Tochter sorgt sich, steht mal staunend, mal traurig, mal lachend vor den oft abrupten Stimmungsumschwüngen ihrer Mutter, mit der sie nun mehr und mehr die Rollen tauscht. Hinzu kommen auch Augenblicke der Wut und Verzweiflung, Überforderung und Ratlosigkeit. »Du spürst wieder mal nichts, oder?« Es sind Sätze wie diese, die die Luft zer- und direkt ins Herz schneiden. Nicht zuletzt hat jede Mutter-Tochter-Beziehung ihre ganz eigene Geschichte. Dennoch zieht sich vor allem die Liebe als zarter roter Faden von der ersten bis zur letzten Seite.
Also Mutti: Danke für das Buch – einfach nur klasse. Und um auf unsere Zukunft zu sprechen zu kommen: Uns ist doch klar, dass wir zwei nie die Rollen tauschen werden. Von uns beiden bist du die Fitte, Agile, Hellwache, das wird nie anders werden. Daher jetzt mein Tipp: Lies du selbst dieses Buch, um dich auf deine Pflegearbeit vorzubereiten.
Alles Liebe, deine Molle
Katja Jungwirth (© Foto: Manfred Weis)
Katja Jungwirth protokolliert in kurzen präzisen Szenen, wie Alter und Krankheit nicht nur eine einzelne Person betreffen, sondern wie sich ein Familiengefüge dadurch neu zusammensetzt und der Alltag sich verändert. Einkäufe werden zum Spießrutenlauf, was heute richtig ist, ist morgen falsch und umgekehrt. Hochkomische wechseln sich mit berührenden, zärtlichen Momenten ab. Ein Buch voller aufrichtiger Geschichten, in denen sich viele wiedererkennen werden.
Zur Person: Katja Jungwirth, geboren 1961 in Graz, Schulbesuche in Wien und New York. Unmittelbar nach Abschluss der UN-Schule in N.Y. mehrere Jahre als Journalistin bei der Kleinen Zeitung tätig. Familiengründung, Theater- und Kabarett-Auftritte. Vor dem EU-Beitritt 1994 übersiedelt die ganze Familie nach Brüssel. 2007 Rückkehr nach Österreich. Katja Jungwirth lebt heute mit Mann, Kindern und Enkelkindern in Wien.
Katja Jungwirth
Meine Mutter, das Alter und ich
Mit Illustrationen von Melanie Haas
Verlag Kremayr & Scheriau
176 Seiten · Hardcover
ISBN 978-3-218-01211-9
22,00 Euro (Auch als E-Book erhältlich)