Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

Schnee

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Jule Springwald erzählt

Meine Eltern hatten ein Ferienhaus, und zwar nicht, wie heute üblich, in irgendeinem extravaganten Ferienort, sondern auf der Schanze bei Schmallenberg im Hochsauerland, nahe den höchsten Erhebungen des Rothaargebirges. Das Örtchen hatte seinerzeit 54 Einwohner, allesamt Bauern und Forstarbeiter, größtenteils mit Gastronomie, da der karge Verdienst eines Bauern nicht für die Versorgung der Familie ausreichte.

Wir Kinder kannten bald alle Leute im Dorf, und alle passten auf, dass uns nichts passierte. Auch die Kühe auf den Weiden, die beiden Rehe in Försters Garten, den Pastor aus dem Kloster Grafschaft, der samstagabends die Messe in der winzigen Kapelle las, und viele Leute, die mehr oder weniger regelmäßig zur Erholung auf der Schanze auftauchten, sie alle kannten wir. Wir durften mitfahren zur Kartoffelernte und ins Heu, und zu Weihnachten im ersten Jahr, das wir dort verbrachten, nahm uns der Förster mit in den Wald, den Weihnachtsbaum holen. Das bedeutete, dass wir nun wirklich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen worden waren.

Onkel Anton, wie alle ihn nannten (die Erwachsenen ließen das ›Onkel‹ natürlich weg) war schon etwas älter. Er war der Vater von Helmut, und Helmut und seine Frau Lene hatten Kinder in unserem Alter, Kühe und später sogar Ponys. Onkel Anton passte auch auf das Haus auf, wenn wir nicht da waren. Er hatte ein steifes Knie und hinkte, aber nur ein kleines bisschen.

Doch es gab nicht nur die Menschen und Tiere im Dorf, sondern im Winter auch jede Menge Schnee. Jedenfalls meistens. Normalerweise kamen wir am Samstag vor Weihnachten an und hatten direkt jede Menge Spaß, weil das Auto nur mühsam den Berg hochkam, jedenfalls wir Kinder hatten Spaß, für Papa war es Stress und für Mama hatte es wohl etwas Bedrohliches. Das Beste war – für uns Kinder –, dass man kurz vor dem Dorfeingang aus dem Wald herauskam und die Straße an einem freien Feld entlangführte bis zum Dorf. Das bedeutete unweigerlich, dass sich dort – mit etwas Glück, wie wir Kinder fanden – eine riesige Schneewehe befand, wenn wir auf der Schanze ankamen. Da wir in der Dorfmitte wieder quer durch den Ort eine steile Straße abwärtsfahren mussten, die im Winter auch meistens schneebedeckt war, stieg meine Mama ungefähr in Höhe der Schneewehe aus, nachdem sie Papa mit ihrer ängstlichen Fragerei dazu gebracht hatte dort anzuhalten, und ging den Rest des Weges lieber zu Fuß. Oft genug mussten wir den Wagen auch auf einem Parkplatz in der Mitte des Dorfes stehen lassen, weil die Straße bis zum Ferienhaus nicht befahrbar war. Seitdem liebe ich Moon Boots.
Das Auto musste dann auch dort ausgeladen werden, denn einen Laden gab es nicht im Ort, und wir brachten immer allerhand Sachen mit, die dann im Winter per Schlitten vom Auto quer durchs Dorf zum Haus gebracht wurden unter den mehr oder weniger spöttischen Blicken und Bemerkungen der Dorfbewohner, die den Sinn mancher Dinge nicht verstanden, die so Stadtmenschen mit sich schleppten. Papa kehrte dann noch schnell bei Onkel Ernst ein, der eine Gaststätte im Ortskern betrieb. Er meinte, er sei schon den ganzen Weg gefahren und habe sich um das Be- und Entladen des Autos gekümmert, er wolle nun eine Runde Doppelkopf spielen.
Mama hatte aber anderes im Sinn und scheuchte uns Kinder, die gerne auch noch mit Papa gegangen wären, nach Hause. Dort hatte Onkel Anton schon die Heizung angemacht, so dass es mollig warm war, besonders auf dem großen Heizkörper im Wohnzimmer, auf dem man gemütlich sitzen konnte. Wir alle und sogar noch Freunde hatten Platz darauf. Die Obstanlieferungsscheine der Safterei hatte mein Papa teilweise für Zitronensirup eingetauscht, und nun gab es für alle heiße Zitrone. Der Christstollen, den wir im November so fleißig gebacken hatten, wurde in Scheiben geschnitten, und so saßen wir bald auf der Heizung, schauten in die Winterlandschaft, tranken unsere Zitrone und aßen Christstollen. So war es für uns zur Gewohnheit geworden, dass wir Weihnachten im Schnee verbrachten.

In einem Jahr aber kamen wir auf der Schanze an und es war nicht ein Flöckchen gefallen. Die Wiesen und Stoppelfelder waren braungrau, die Tannen einfach nur grün … Keine Schneewehe hielt uns auf.
Mein Bruder Marcus war enttäuscht, er liebte Schnee sehr. Weil er alle nervte, sagte meine Mama zu ihm, er sollte mal zu Onkel Anton gehen und fragen, wo denn der Schnee bliebe. Das war wohl eher nicht ernst gemeint, aber Marcus lief sofort los. Er fand ihn im Stall bei den Kühen und fragte, wann es denn endlich schneien würde. Onkel Anton sagte: »Am Heiligen Abend.« Marcus hoffte doch, dass es etwas eher losgehen würde, und versuchte es mit einer Art Bestechung. Er war ganz besonders brav und ging überpünktlich ins Bett, aber als er am nächsten Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, hatte sich nichts getan. Noch zwei lange Tage bis Heiligabend, und das ohne Schnee!

Wieder lief er zu Onkel Anton und nervte ihn mit seiner Fragerei, aber der sagte nur: »Heiligabend, ich spüre es in meinem Bein!« Marcus fühlte sich etwas veralbert, zumindest nicht ernst genommen. Als am nächsten Morgen immer noch kein Schnee lag, wollte er lieber wieder zurück nach Castrop und wurde entsprechend zickig.
Am Morgen des 24. Dezember lag kein Schnee, es war ein bisschen neblig, aber nicht eine Wolke war am Himmel zu sehen. Das Wohnzimmer durfte nicht mehr betreten werden von uns Kindern, und einen Fernseher gab es nur dort. Ich hatte ja meine Bücher, aber die Jungs zankten lieber rum, man konnte kaum ein Wort in Ruhe lesen. So was Blödes, nur weil es keinen Schnee gab, wussten sie nichts mit sich anzufangen.
Papa nahm uns alle mit auf eine Fahrt über Land, um »zu sehen, ob schon irgendwo das Christkind da gewesen« sei. Hier und da leuchteten schon die Kerzen; zu der Zeit gab es nicht so viele Leute, die ihr Haus in der ganzen Adventszeit beleuchteten, und auch bei uns wurden die Kerzen am Weihnachtsbaum erst zur Bescherung angeschaltet. Wieder zu Hause zogen wir unsere festlichen Sachen an, das machten wir immer so am Heiligabend.

Vor der Bescherung gingen bzw. fuhren wir noch zum Gottesdienst in Grafschaft in der Klosterkirche. Die Fahrt durch den dunklen Wald war etwas unheimlich, wir waren sonst immer durch den weißen Winterwald zur Kirche gefahren. Stimmgewaltig sangen die Sauerländer ›Heiligste Nacht‹ und ›O du fröhliche‹. Marcus war nicht fröhlich, er war so enttäuscht wegen des fehlenden Schnees. Nun dauert so eine Christmesse gefühlt etwas länger …

Als wir nach dem Segen aus der Kirche kamen, glitzerte es weiß. Es hatte inzwischen angefangen sacht, aber stetig zu schneien, und es lagen schon einige Zentimeter Schnee. Als wir auf der Schanze ankamen, waren in allen Häusern und auf dem Parkplatz in der Ortsmitte die Weihnachtsbäume erleuchtet. Wir mussten das Auto ›oben‹ stehen lassen, weil es auf der Straße zu glatt war.

Die Geschenke spielten für uns an diesem Heiligabend keine große Rolle, der Schnee hatte alle Streiterei vertrieben. Es war das friedlichste Weihnachten, das ich in unserer großen und mitunter wilden Familie erlebt habe.

Und Marcus war von da an überzeugt, dass es nur »wegen Onkel Antons Bein« geschneit hatte.

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