Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Soziales

Nummer 2.033 hat überlebt!

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Die dunkle Geschichte der Heimkinder

Thomas Frauendienst erinnert sich nur bruchstückhaft: an einen dunklen Raum, Fixierung, Schmerzen und ein süßliches Parfüm. »Das rieche ich noch heute!« Die Misshandlungen und Vergewaltigungen durch einen Mitarbeiter des Johanna-Helenen-Heims in Volmarstein sind die Spitze eines Martyriums, das der Castrop-Rauxeler als Kleinkind durchleiden musste. Und er ist mit seiner Geschichte nicht allein. Erhebungen gehen von bundesweit hunderttausenden Minderjährigen aus, die in der Nachkriegszeit in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie psychische oder physische Gewalt erfahren haben. Um ›die Geschichte der Heimkinder‹ ans Licht zu bringen, laden Thomas Frauendienst und die Stadt Castrop-Rauxel am 5. November zu einer Vortragsveranstaltung mit Podiumsdiskussion in den Ratssaal ein.

Ehemaliger NS-Arzt herrschte über ›Kinder zur besonderen Verwendung‹

Am 25. März 1964 kam Thomas Frauendienst im ev. Krankenhaus Witten mit ›umgedrehten Füßen‹ zu Welt. »Meine Mutter war durch den Krieg traumatisiert und hatte während der Schwangerschaft 40 verschiedene Medikamente eingenommen, sehr wahrscheinlich auch Contergan«, berichtet er. Noch in der gleichen Nacht habe man ihn an die damals als ›Krüppelanstalt‹ verschriene Einrichtung in Volmarstein übergeben. Hier hatte der berüchtigte Dr. Alfred Katthagen das Sagen – ein bekennender Befürworter der NS-Rassenhygiene, der Ausrottung ›unwerten Lebens‹ durch Zwangssterilisation. Unter dem Dach der an das Johanna-Helenen-Haus angeschlossenen Klinik führte der Mediziner die Station der ›Kinder zur besonderen Verwendung‹ – eine Abteilung, die Erinnerungen an ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte wachruft, nicht nur dem Namen nach.

»Da haben Sie Ihren Krüppel!«

Heute weiß Thomas Frauendienst: »Ich habe diese vier Heimjahre nur überstanden, weil sich eine Diakonisse ein Herz fasste. Über Umwege machte sie meine Mutter ausfindig. Sie sagte: ›Wenn jetzt nicht etwas passiert, wird Ihr Kind sterben!‹, und drohte, mit dem Skandal an die Öffentlichkeit zu gehen. Meine Eltern hatten ja von meiner Situation gewusst, mich alle paar Monate sogar besucht. Allerdings bekam ich sie bei diesen Pflichtbesuchen nur durch eine dicke Glasscheibe zu Gesicht. Anschließend sind die dann immer mit der ganzen Familie zum Kaffeetrinken. Das hat mir später mein Bruder Martin erzählt. Er war der einzige, der mir helfen wollte und nicht gehört wurde. Er war ja selbst noch so klein.« Doch die Drohung der Diakonisse zeigte Wirkung:  Thomas’ Mutter fuhr mit einem befreundeten Paar nach Volmarstein. Dort wollte man den Jungen zuerst nicht herausrücken. »Nach langem Hin und Her übergab man mich doch, ein halbtotes, in Laken eingewickeltes Bündel: ›Da haben Sie Ihren Krüppel!‹ Ich war abgemagert bis auf die Knochen und völlig apathisch. Der Darm guckte raus. Sie sind direkt mit mir zum Kinderarzt. Und der meinte: ›Sie brauchen keinen Arzt, Sie brauchen einen Bestatter.‹«

»Das Schlimmste war, dass ich nie eine richtige Familie hatte«

Der Vierjährige überlebte. Ein Wunder, aus medizinischer Sicht. »Das Schwein, das mich und viele andere Kinder vergewaltigt hatte, wurde später verurteilt, kam jedoch nach nur sechs Jahren wegen guter Führung frei.« Für Thomas Frauendienst hingegen gab es auch nach seiner Rettung keinen Frieden. »Ich hatte ständig Darmverschlüsse, konnte mit sieben noch nicht selbstständig laufen.« In der Essener Kinderklinik stellte man fest, dass ihm Sehnen, Knochen und Muskeln fehlten. Einige Knochen waren angesägt, Organe in Mitleidenschaft gezogen. »Ich hatte ständig Beschwerden, jedes Jahr kam eine neue Krankheit hinzu. Und Antibiotika wirkten bei mir anders als bei normalen Menschen. Die Ärzte konnten mir nicht helfen, denn sie kannten die Ursache nicht.« Inzwischen wurden bei ihm 20 verschiedene, teils sehr ernste Krankheiten diagnostiziert. Vier Jahre hat Thomas Frauendienst im Rollstuhl verbracht, zehn Jahre in Krankenhäusern gelegen, 105 Operationen über sich ergehen lassen. »Das Schlimmste war, dass ich nie eine richtige Familie hatte.« 2010 hätte er sich fast das Leben genommen. »Durch Gottes Hilfe und die Unterstützung lieber Menschen, insbesondere meiner Lebensgefährtin Angelika Harms, habe ich dann aber doch nicht aufgegeben.«

Rückkehr an den Ort des Schreckens

Er fasste neuen Lebensmut, wollte mehr wissen, die Ursache seiner schlechten Verfassung ergründen – zumal er immer öfter von schlimmen Erinnerungsfetzen heimgesucht wurde. »Meine Eltern hüllten sich in Schweigen, und in der entfernteren Verwandtschaft wurde ich gemieden. Heute ist mir klar, dass sie die rechtlichen Konsequenzen wegen unterlassener Hilfeleistung fürchteten. Niemand hatte ein Interesse daran, gewisse Dinge aufzudecken. Und sie waren erfolgreich: Als ich Jahrzehnte später schließlich alles herausfand, war ihre Mitschuld längst verjährt.« Es ist seiner Lebenspartnerin Angelika Harms zu verdanken, dass die Wahrheit überhaupt ans Licht kam. »Sie hat 16 Jahre lang mit mir Detektivarbeit geleistet und mich dazu ermutigt, mich meiner Vergangenheit zu stellen.« Gemeinsam kehrte das Paar zurück an den Ort des Schreckens, an dem alles begonnen hatte. »In den Büchern der Klinik Volmarstein wurde mein Name auf einer ellenlangen Liste unter der Nummer 2.033 geführt. Aus diesen Aufzeichnungen ging hervor, dass ich allein in den ersten sechs Monaten meines Lebens 60-mal operiert und mit diversen Medikamenten vollgestopft worden bin. So erklärten sich die angesägten Knochen, das Organversagen und meine Antibiotikaunverträglichkeit: Der ehemalige Naziarzt Katthagen hatte seine medizinischen Experimente an uns behinderten Kindern weitergeführt.«

»Ich möchte fröhlich sein und denen eine Stimme geben, die nicht mehr leben oder ihren Schmerz nicht mitteilen können.«

Der Horror von Volmarstein ist inzwischen auch von Historikerseite aufgearbeitet und belegt worden. Durch die Evangelische Kirche und die Stiftung ›Anerkennung und Hilfe‹ wurde Thomas Frauendienst neben vielen anderen als Missbrauchsopfer anerkannt. 9.000 Euro hat er als Entschädigung erhalten – in Anbetracht seines lebenslangen Leidensweges eine eher symbolische Summe. »Kein Geld der Welt kann die körperlichen und seelischen Folgen ausgleichen.« Trotzdem will der politisch und sozial vielfältig engagierte Castrop-Rauxeler nicht voller Hass und Verzweiflung durchs Leben gehen. »Ich möchte fröhlich sein und denen eine Stimme geben, die nicht mehr leben oder ihren Schmerz nicht mitteilen können.« Die evangelische Kirche sieht er als Bündnispartner, nicht als Gegner. »Pfarrer Dietrich, der Vorsitzende der ev. Stiftung Volmarstein, war bei der Aufklärung sehr entgegenkommend.«

»Akten kann man schließen, aber menschliche Schicksale niemals!«

Im Rahmen der Diskussionsrunde im Rathaus will Thomas Frauendienst nicht nur seine Geschichte erzählen, er will auch auf Hilfsmöglichkeiten für Betroffene hinweisen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten. »Bei der 2017 gegründeten Stiftung ›Anerkennung und Hilfe‹ können missbrauchte Heimkinder noch bis 2021 ihre Entschädigung beantragen. Ich appelliere dafür, diese Frist unbedingt zu verlängern! Viele frühere Opfer sind aktuell noch nicht in der Lage, für ihr Recht einzustehen, weil sie psychische Probleme haben, in Betreuung leben und/oder gar nichts von der Existenz der Stiftung wissen. Das braucht Anlaufzeit. Und es muss noch viel mehr geschehen, auch psychosozial. Was passiert beispielsweise, wenn ehemalige Heimkinder alt werden? Sollen sie dann wieder ins Heim? Mit einem Geldgeschenk ist es nicht getan. Ich sage: Akten kann man schließen, aber menschliche Schicksale niemals!«

›Die Geschichte der Heimkinder‹

05.11. ·15 Uhr · Ratssaal Castrop-Rauxel
www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de

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