Schneeglöckchenläuten auf dem Eselsberg
Jule Springwald erzählt
Vor vielen hundert Jahren war Castrop ein kleines Dorf an einer Wegeskreuzung. Die Römer hatten es angelegt als Stützpunkt für die Truppen, und die verschiedenen Kriegsparteien in späteren Zeiten nutzten den Ort auf die gleiche Weise.
Damals lebte auf dem Eselsberg in Obercastrop ein Bauer mit seiner Frau und seinen vier Kindern mehr schlecht als recht, denn wenn ihm von seiner harten Arbeit so viel übrig blieb, dass er einen Vorrat für schlechte Zeiten anlegen konnten, kam jedes Mal irgendein Herzog mit seinen Rittern über die gut gebauten Heerwege und nahm das, was er bei dem Bauern fand, als Kriegsbeute oder aber konfiszierte es als Verpflegung für seine Mannen.
Die Bauersleute überlegten, wie sie sich vor diesen Übergriffen schützen konnten. Es konnte ja nicht angehen, dass ein Bauer inmitten seiner Felder Hunger leiden musste. Da ihnen nichts einfiel, wollten sie sich auf die Reise begeben und woanders einen ruhigeren Platz suchen. Sie saßen schon auf gepackten Kisten, da sahen sie einen Reisenden des Weges kommen, einen einzelnen Mann, der eher wie ein Händler als wie ein Kundschafter eines neuen Kriegsheeres aussah.
Sie boten ihm Brot und Wasser an, weil er ziemlich erschöpft aussah. Er erzählte ihnen, dass er von Russland käme und Blumensamen für eine Familie in Holland bei sich habe. Diese Blume sei bekannt dafür, dass sie den Winter vertreiben könne und Glück bringe.
Er erzählte noch lange, und so wurde es an diesem Tag zu spät für den Aufbruch. Die Bauern beratschlagten, was sie tun sollten, und dachten, dass es auf den einen Tag auch nicht mehr ankommen sollte. Sie boten dem Reisenden an, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Nun hatte die lange Reise ihn aber so erschöpft, dass er abends einschlief und am nächsten Morgen nicht mehr aufwachte. Die Bauersleute gruben ihm ein Grab und legten ihn mit allem, was er bei sich trug, hinein.
Einige Tage später brachen sie dann wirklich auf und wollten ihr Glück anderswo suchen, aber nach einer kurzen Wegstrecke hatten sie das Gefühl, etwas vergessen zu haben, und kehrten zu ihrem Haus zurück. Sie konnten aber nichts finden, was sie vergessen haben könnten.
Am nächsten Tag machten sie sich wieder auf, um abends doch wieder in ihrem alten Haus zu landen. Plötzlich sagten die Kinder zu den Eltern: »Hört ihr das Läuten?« Sie lauschten, aber sie hörten nichts. Als sie tags darauf wieder abreisen wollten, hielten die Kinder sie mit dem Hinweis auf das Läuten fest, und abends sagte der Bauer: »Egal, was passiert, unsere Heimat lässt uns wohl nicht los, und ob es anderswo besser ist als hier, wissen wir nicht.« So blieben sie wohnen, und sie hatten Glück, denn in diesem Jahr wurde die Gegend, wo sie sich neu ansiedeln wollten, von den fahrenden Rittern heimgesucht, ihr Hof aber blieb verschont, so dass sie einen guten Vorrat anlegen konnten.
Bald kam der Herbst und dann der Winter, der ein besonders harter werden sollte. Nach Monaten in Kälte und Schnee wachten die Kinder eines Morgens von Sonnenstrahlen auf, die durch das Fenster fielen. Und, wie schon Monate vorher, hörten sie ein leises Läuten. Es kam von draußen, wo der Reisende im Jahr zuvor sei Grab gefunden hatte. Auf dem Grab war der Schnee an einigen Stellen geschmolzen, und dort schauten ein paar kleine weiße Blütenglöckchen zwischen langen schützenden Blättchen und schwangen im Wind sacht hin und her. Das waren Schneeglöckchen, die mit ihrem Läuten die Familie in ihrem Haus zurückgehalten hatten und nun ein glückliches Jahr einläuteten, denn alle Leute, die vorbeikamen, wollten gerne solche Frühlingsboten haben und brachten dadurch dem Bauern Reichtum und Zufriedenheit. Und wenn du genau aufpasst, kannst du im frühen Frühjahr, wenn die Schneedecke erst an wenigen Stellen aufgebrochen ist, die Schneeglöckchen läuten hören.
