Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Menschen

Ziemlich beste Freunde

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Wie ein spanischer Arzt einem kleinen Jungen das Leben rettete

›Kinder zur besonderen Verwendung‹. ›Laufende Nummer #2033‹. Behandelt von einem ehemaligen Assistenten des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele. Was sich anhört wie eine Horrorgeschichte, der man allenfalls einen fiktiven Hintergrund zuschreiben würde, ist genau dies nicht. Sie ist Realität für Thomas Frauendienst.

»Was machen wir mit ihm?«

Der Castrop-Rauxeler hatte es wahrlich nicht leicht: 1964 in Witten geboren, stellte sich ihn betreffend sogleich eine perfide Frage: »Was machen wir mit ihm?« Der Grund: Thomas Frauendienst war kein Kind wie jedes andere, war nicht gesund. Stattdessen kam hier ein Junge mit verdrehten Füßen zur Welt, dem man kaum Überlebenschancen und schon gar nicht die Fähigkeit, irgendwann eigenständig laufen zu können, zusprach. »Mutmaßlich ist das eine Folge einer Contergan-Einnahme meiner Mutter. Mit Bestimmtheit lässt sich das aber nicht nachweisen«, erläutert Thomas Frauendienst seine Geschichte. »Im Ergebnis machte das aber zunächst einmal keinen Unterschied. Man wusste eben nicht, was man mit solch einem Kind nun anfangen sollte.«

»Man brachte mich in die Krüppelanstalt«

Dieses Unwissen sollte im weiteren Verlauf zu dem führen, was jene Horrorgeschichte ausmachen würde, wie er weiter berichtet: »Man brachte mich in die ›Krüppelanstalt Vollmarstein‹. Die hieß tatsächlich so und wurde von Dr. Alfred Katthagen geleitet – ein bekennender Befürworter der NS-Rassenhygiene, der Ausrottung ›unwerten Lebens‹ durch Zwangssterilisation. Fortan war ich eines der Kinder zur ›besonderen Verwendung‹.« Was dies offiziell bedeutet haben mag, ist nicht bekannt. Was Thomas Frauendienst aber faktisch in den folgenden viereinhalb Jahren erwartete, war ein Martyrium aus sexualisierter Gewalt, Vernachlässigung und Fehlbehandlungen, aus deren Summe eine Liste von über 20 Folgeerkrankungen hervorging, die teilweise unheilbar sind. »Glücklicherweise, wenn man das so sagen kann, haben meine Eltern mich nach besagten viereinhalb Jahren aus der Anstalt geholt. Ich war zu diesem Zeitpunkt allerdings völlig unterentwickelt, mein Darm schaute heraus, ich war völlig ausgehungert. Meine Mutter versuchte nun, mir helfen zu lassen, insbesondere was die Behinderung hinsichtlich der Beine betraf. So einfach war das allerdings nicht, denn ich stammte aus einfachen Verhältnissen, und die Krankenkasse lehnte jegliche aufwendige Operation ab, die mir das Laufen hätte ermöglichen können. Außerdem hatte ich schon einige OPs in Bochum-Linden erhalten, um auf die wesentlichen Schäden meiner ersten Lebensjahre in Vollmarstein zu reagieren. Meine Mutter jedoch hatte noch eine Idee: Sie wandte sich an die Presse, und der öffentliche Druck auf die Führung der Krankenkasse wurde stärker, was letztendlich in einer Zusage zur Übernahme der Kosten mündete.«

Ein spanischer Arzt wurde zum Freund und Mentor

So unglücklich die Geschichte von Thomas Frauendienst bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen sein mag, so positiv war die Wendung, die sich im Folgenden auftat. »Durch Zufall wurde Dr. Fernando Chicote, ein aus Spanien stammender Experte für Kinderorthopädie, auf meinen Fall aufmerksam und nahm sich meiner an. Was er vorfand, war ein sechsjähriger Junge auf dem geistigen Entwicklungsstand eines dreijährigen, der noch dazu panische Angst vor Ärzten hatte. Das hat ihn jedoch nicht abgeschreckt. Mit Empathie und Einfühlungsvermögen hat er diese Herausforderung angenommen.« Im weiteren Verlauf transplantierte Dr. Chicote, der 1990 verstarb, Thomas Frauendienst nicht nur Achilles-Sehnen und korrigierte die Fußstellung in einer 18-stündigen Operation an der Universitätsklinik Essen, sondern begleitete ihn auch als eine Art väterlicher Mentor durch die folgenden Lebensjahre. »Nach zwei bis drei Jahren Reha konnte ich erstmals laufen«, berichtet Thomas Frauendienst stolz. »Und das war nur der Anfang eines Lebens, das mir nur einige Jahre zuvor wohl niemand zugetraut hätte.«

Ein neues Leben

Wahrlich kann sich sein weiterer Lebensweg sehen lassen: Fachabitur, Staatsexamen, eine Buchveröffentlichung mit dem Titel ›Leben trotz Contergan‹, die Ehrennadel der Stadt Castrop-Rauxel und sogar ein Titel als Deutscher Para-Vizemeister im Bankdrücken prägen seinen Steckbrief. »Ich bin der festen Überzeugung, dass ich das alles auch Dr. Chicote zu verdanken habe, der mich über 22 Jahre als Mentor begleitet hat. Ihm war es nicht wichtig, aus welchen Verhältnissen ich stamme oder welche Chancen man mir zuschrieb. Er hat jeden gleich behandelt. Er hat die Menschen in seinen Patient*innen gesehen und auch mir so eine Art neues Leben geschenkt.« Umso mehr freute sich Thomas Frauendienst auf ein ganz besonderes Treffen im Juni: Erstmals lernte er Dr. Chicotes Sohn kennen, der in Köln lebt. »Ich freue mich über die Maßen, dass diese langjährige Verbindung nun in der nächsten Generation fortbesteht!«

»Aufgeben ist keine Option!«

Heute ist Thomas Frauendienst anerkanntes Opfer sexualisierter Gewalt durch die ev. Landeskirche NRW und die ›Stiftung Anerkennung und Hilfe‹. Was ihm Gutes widerfuhr, das möchte er weitergeben: So engagiert er sich bereits seit 2016 in beratender Funktion für Menschen mit Behinderungen in der ›Stiftung Anerkennung und Hilfe‹. »Mein Anliegen hier ist es, weiterzugeben, was ich durch Dr. Chicote lernte. Ich möchte den Menschen Mut zusprechen, sie dazu bewegen, niemals aufzugeben, so aussichtslos die Lage auch zu sein scheint. Man kann nahezu alles erreichen, wenn man nur nicht aufgibt. Aufgeben ist keine Option. Sei es als Angehörige*r oder als Betroffene*r. Dies zu vermitteln, ist meine Mission!«

Mehr über die Stiftung Anerkennung und Hilfe unter:
www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de

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