Stadtmagazin Castrop-Rauxel: In der Stadt

Früher war alles besser!?

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»Seltsam ist es, dass wir in schlimmen Tagen uns die vergangenen glücklichen sehr lebhaft vergegenwärtigen können; hingegen in guten Tagen die schlimmen nur sehr unvollkommen und kalt.«
Arthur Schopenhauer (1788–1860), deutscher Philosoph

Haben wir gute oder schlechte Tage, schlimme oder schöne Zeiten? Die Antwort darauf kann vermutlich auch in der aktuellen Corona-Krise durchaus unterschiedlich ausfallen. Viele leiden unter Isolation und wirtschaftlicher Not, andere wissen die verstärkte Hilfsbereitschaft der Nachbarn und das intensive Beisammensein mit den Kindern durchaus zu genießen, wobei der Großteil von uns wohl eindeutig zur Beurteilung ›schlechte Tage‹ tendiert. Interessanterweise ging auch der Trend vor Ausbruch der Pandemie in Richtung ›Früher war alles besser‹. Angst vor Arbeitslosigkeit und Hartz IV, abnehmende Verbundenheit mit Republik und Politik … Es wird viele Gründe dafür geben, dass wir gar nicht mehr wahrgenommen haben, wie gut es uns doch eigentlich ging.

Im Gegenteil, in der letzten Zeit haben Aggression, Rassismus und Kommunikationsunfähigkeit in einem Maße zugenommen, das vor wenigen Jahren kaum vorstellbar war. Hingegen wurden frühere extreme Notsituationen wie Weltkrieg, Nationalsozialismus und Antisemitismus immer stärker ausgeblendet, wenn nicht gar bagatellisiert. Umso wichtiger ist es, dass Menschen, die diese furchtbaren Tage erlebt haben, aus ihrer Vergangenheit berichten: dass Zeitzeugen ihre Erfahrungen und Emotionen weitergeben und so die Vergangenheit lebendig erhalten.

So sieht es auch Reinhold Ramlau. Seit vielen Jahren ist er aus diesem Grund Mitglied des Arbeitskreises für Geschichte, hat so manche historische Station Castrop-Rauxels recherchiert und auf den Punkt gebracht, aber auch viele eigene Momente zu neuem Leben erwachen lassen. So wie diese: ›Erinnerungen eines Kindes an den Krieg‹ …

Erinnerungen eines Kindes an den Krieg
Traumatische Erlebnisse im Rückblick

Ein Bericht von Reinhold Ramlau*

Im Juli 1938 geboren, erlebte ich die schlimmsten Ereignisse des Zweiten Weltkriegs so intensiv mit, dass ich diese bis auf den heutigen Tag noch nicht völlig vergessen und verarbeitet habe.

Mein Vater, als Soldat in Russland, kam im Laufe des Krieges nicht einmal zu Besuch nach Hause. Somit lebte ich – gemeinsam mit meiner Stiefmutter und zwei Stiefgeschwistern – in einer uns zugewiesenen Wohnung im Hause Schuhwaren Emil Köller, Münsterstraße 20, direkt angrenzend an die bekannte Eisdiele Müller im Biesenkamp. Erwähnen möchte ich noch, dass meine leibliche Mutter im November 1938, dreieinhalb Monate nach meiner Geburt, verstarb. Wie auch fast die gesamte Bevölkerung lebten wir in großer Armut. Es fehlte ›an allen Ecken‹: Kein Schuhwerk, keine Kleidung, ja wir besaßen oft nicht einmal das Notwendigste.

Hiermit möchte ich, stellvertretend für viele arge und böse Ereignisse, nur eine Begebenheit schildern, da sie so gravierend war und für ein Kind zugleich dermaßen ungerecht erschien, dass sich diese tief in meinem Herzen vergraben hat. Aufgrund der immer mehr zunehmenden Warnungen (Luftalarm) waren wir täglich ›auf dem Sprung‹, um in den Luftschutzbunker an der heutigen Lönsstraße zu gelangen. Da wir zeitweise nicht über elektrischen Strom verfügten, gehörte eine Petroleumleuchte zu unserem täglichen Leben. Hierbei sei erwähnt, dass wegen der schlechten Versorgungslage Petroleum, Dochte und Glaszylinder überhaupt schwer zu bekommen waren. In dieser Zeit lebten wir größtenteils bei Kerzenlicht. Endlich – nach zehn Tagen – bekamen wir den so dringend benötigten Drahtzylinder bei Nohlen & Kracht im Biesenkamp.

Wieder einmal galt es für uns, sich ganz schnell in Sicherheit zu bringen; man hörte schon die Bomber, die zu den großen Industriebetrieben (Teerverwertung und den Stickstoffwerken) und darüber hinaus zu allen Zechen unterwegs waren. Meine Stiefmutter sammelte alles Notwendige zusammen, packte uns Kinder an den Händen und los ging’s. Ich, der Kleinste, bekam die Petroleumleuchte in die Hand, um uns allen den Weg zu leuchten über die alten ausgetretenen Holzstiegen aus dem dritten Stock des Schuhhauses Köller. In großer Eile, in panischer Angst, übersah ich – vorangehend – eine Treppenstufe; ich stürzte und zerschlug im Fallen den Zylinder der Leuchte. Totenstille, nur das Schlagen meines Herzens war für mich zu hören.

Noch heute ist es für mich nicht verständlich, wie schnell und gezielt meine Stiefmutter meinen Hosenboden fand, denn es setzte eine anständige Tracht Prügel. Man kann es niemandem erzählen: In diesem Moment konnte ich nicht weinen, spürte auch keinerlei Schmerz; in meinem Kopf wehrte ich mich aber vehement dagegen, dass ich hier ungerecht bestraft wurde. Nie in meinem Leben habe ich diese Begebenheit vergessen!

Im Übrigen: Wir erreichten den Luftschutzbunker, jedoch mit Verspätung. Es geschah nun täglich, manchmal auch zwei- bis dreimal, dass wir den Weg zum Bunker gehen mussten. Einmal, ich erinnere mich noch sehr genau, waren meine Stiefmutter, ihre beiden Kinder und ich so spät zum Bunker gelaufen, dass ich bei der großen Eile den Anschluss an die übrige Familie völlig verpasste. Das Heulen der Sirene machte mir riesige Angst! Ich kam in der Münsterstraße nicht weit, als eine Luftmine in unmittelbarer Nähe einschlug. Durch deren großen Druck wurde ich in die hinteren Räume des früheren Schuhgeschäfts Beckmann geschleudert, wo ich schwer verletzt liegen blieb. Als letzte Kontrolle, ob alle Personen den Bunker erreicht hatten, war der Luftschutzwart Fleischfresser – ein sehr beleibter Mann – eingesetzt. Durch mein klägliches Wimmern aufmerksam geworden, sammelte dieser mich als blutendes Bündel auf und trug mich zum Bunker. Erst hier meldete sich meine Stiefmutter; anscheinend hatte sie mich noch nicht vermisst!

Noch heute kann ich es nicht verkraften, wenn ich das Heulen der Sirenen höre (auch, wenn es nur zu Übungszwecken dient). Vor längerer Zeit hatte ich in Berlin Gelegenheit, im ›Theater des Westens‹ das Stück ›Bombenstimmung‹ zu erleben. Unsere dort lebende Tochter hatte uns – nichts ahnend – dazu eingeladen. In diesem Stück erklang auf einmal sehr eindringlich die Fliegeralarmsirene. Nichts, aber auch gar nichts, haben wir – meine Frau und ich – mehr von diesem, sonst gutem Theaterstück mitbekommen; wir hatten beide eine ›Gänsehaut‹. Sehr viel später konnten wir der Tochter erklären, warum wir in der Pause so wortkarg waren. Ich glaube, sie hat uns verstanden.

Vielleicht hätten wir Kinder nach Beendigung des Krieges eine psychologische Betreuung erfahren müssen. Nun, das gab es damals noch nicht, ganz im Gegenteil; wer außerordentliche Krankheitssymptome über einen längeren Zeitraum zeigte, den ›sperrte man weg‹, man schickte ihn in die Klapsmühle. Ich glaube einfach sagen zu können, dass unsere Bemühungen nach dem Kriegsende, wobei es um unser nacktes Überleben ging, dazu beigetragen haben, dass wir mehr oder weniger ›unbeschadet davongekommen‹ sind!

Am Ende meiner Geschichte gestatten Sie mir eine kleine Nachbetrachtung und lassen Sie mich ein wenig Resümee ziehen: Alle Politiker mögen in weiser Voraussicht die Einsicht besitzen, dass unseren Kindern und allen weiteren Generationen dieser Erde jederzeit Kriege erspart bleiben und immer Friede unter den Völkern sei!

* Auszug eines Beitrags von Reinhold Ramlau, erschienen im Rückspiegel 2012


Mit dem Bau des Bunkers an der Kaiser-Friedrich-Straße (heute Lönsstraße) wurde im Winter 1941 begonnen. Anfang 1944 war er fertiggestellt. Nach einem Protokoll der Sitzung des Rates der Stadt Castrop-Rauxel vom 15. Dezember 1944 musste der Oberbürgermeister Dr. Anton eingestehen, dass der Luftschutzbunker an der Kaiser-Friedrich-Strauße (heute Lönsstraße) eigentlich noch nicht fertiggestellt sei. Begründung: Es fehle an Baumaterial für den ›Bunkerschornstein‹. Trotzdem wurde der Luftschutzbunker bereits regelmäßig von etwa 2.700 bis 3.000 Menschen genutzt. Er hatte eine Gesamtnutzfläche von 3.379 qm. Zeitzeugen haben erst nach Kriegsende erfahren, dass die Deckenkonstruktion dieses Luftschutzbunkers aus Beton unfertig war und einen Bombentreffer nicht ausgehalten hätte. Unweigerlich hätte dies zu einer großen Katastrophe geführt.

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