Stadtmagazin Castrop-Rauxel: In der Stadt

Pioniere in Knickerbockern

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Wie Willi Neuhaus und seine drei Kumpels 1955 nach Frankreich aufbrachen

Seine Kumpels von damals sind inzwischen längst tot, doch die guten Erinnerungen von Willi Neuhaus an die gemeinsame Reise mit ihnen nach Frankreich leben bis heute fort. Auch über 60 Jahre nach seiner ersten ›Tour de France‹ im Juni 1955 hat der Castroper noch zahlreiche Details dieser unvergesslichen zwei Wochen parat.

Der heute 85-Jährige gehörte in den 1950er-Jahren zu jenen jungen Männern aus unserer Stadt, die lange vor der offiziellen politischen Aussöhnung – dem von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1963 besiegelten Élysée-Vertrag – ihren persönlichen Beitrag zur Völkerverständigung mit dem westlichen Nachbarn geleistet haben. Der Impuls, nach dem Zweiten Weltkrieg die seit Generationen beschworene unselige ›Erbfeindschaft‹ zwischen den Nachbarvölkern endgültig zu beenden, kam seinerzeit für Willi Neuhaus und seine Freunde aus Frankreich. »Eine junge Pfadfindertruppe aus der Nähe von Paris besuchte uns daheim und lud uns zu sich nach Hause ein«, erinnert sich Neuhaus zurück. Ein Foto vor der Haustür des längst abgerissenen elterlichen Hauses auf dem Gelände des heutigen Parkplatzes an der Schillerstraße mit Mutter Josefine und Schwester Marlies dokumentiert diese Begegnung.

Die Pfadfinderbewegung spielte nach dem Krieg eine ganz entscheidende Rolle bei der Annäherung zwischen Deutschen und Franzosen. Auf französischer Seite war Louis Faurobert (1908–1999) eine der treibenden Kräfte. Er war es, der bereits Ende der 1940er-Jahre im Mont-Blanc-Massiv auf 1.600 Metern Höhe in dem Örtchen Doran bei Sallanches den Bau einer Kapelle initiierte, die er ›Notre-Dame de la Paix du Monde‹ nannte – also explizit als Gegenentwurf zum Krieg der Gottesmutter als Hüterin des Weltfriedens widmete.
Das Gotteshaus entstand in den Jahren 1950 bis 1957 unter maßgeblicher Beteiligung von Menschen auch aus Castrop-Rauxel. Impulsgeber hier war der damalige Stadtjugendpfleger Hans Spranke, dessen Credo nach Krieg und Gefangenschaft lautete: »Frankreich und Deutschland dürfen nie wieder gegeneinander Krieg führen.« Bereits 1952 fuhr eine erste Gruppe, darunter auch Hans Grimmenstein und Heinrich Blumenroth, nach Doran. 1953 folgte eine zweite, unter anderem mit Heinrich Schülken. Diese Begegnungen haben das Leben und Denken der jungen Männer – zumeist um die zwanzig – nachhaltig beeinflusst, wie Heinrich Schülken berichtet. Die persönliche Einladung, die Willi Neuhaus kurz nach diesen Arbeitseinsätzen aus Paris erhielt, blieb nicht lange unbeantwortet. Rasch fand sich mit Franz Jansen, Willi Vierhaus und Herbert Hunold ein Quartett, das sich bereits bestens vom Fußball bei der DJK Wacker Obercastrop kannte. Was dem Projekt zugute kam: Herbert Hunolds Vater besaß bereits einen neuen schick-schwarzen VW-Käfer mit der legendären Brezelheckscheibe, so dass die ›Viererbande‹ mobil war. Zudem waren somit zwei Schlafplätze gesichert. Und so kam es, dass Burschen in damals schwer modischen Knickerbockern – ohne ein Wort Französisch zu sprechen – in eine unbekannte Welt aufbrachen. »Abwechselnd pennten immer jeweils zwei im Auto und zwei in einem alten Wehrmachtszelt, denn teure Unterkünfte konnten wir uns natürlich nicht leisten«, so der gelernte Karosseriebauer Willi Neuhaus. Sein längst abgelaufener Reisepass dokumentiert die Grenzüberfahrten nach Belgien und Frankreich: Es war der 17. Juni 1955.

Da Stadtjugendführer Spranke zuvor von der Reise gehört hatte, erhielt die Mission des Castrop-Rauxeler Quartetts sogar einen offiziellen Auftrag: die Übergabe eines verschlossenen Din-A-4-Umschlags an Patres in Le Mans. »Was drin war, haben wir nie erfahren, aber ich vermute Bargeld zur Unterstützung eines Neubaus einer Kirche oder eines Jugendheims«, so Willi Neuhaus. Als Paris am Horizont auftauchte, verließ den Trupp zunächst der Mut, und man beschloss, auf einem Waldweg zu übernachten. »Morgens sind wir dann alle in einen Friseursalon gegangen, um uns schick machen zu lassen«, berichtete Neuhaus weiter. Doch weil es keine echte Verständigung gab, habe man auf die Fragen des Friseurs immer nur mit »Oui« geantwortet. »Am Ende hatten wir alle Kurzhaarschnitte mit viel Pomade im Haar, das war natürlich nicht das, was wir eigentlich gewollt hatten«, so die ernüchternde Bilanz. Doch anschließend verlief alles glatt. Die Helden in Knickerbockern eroberten Paris, die Fotos vom Dach des Triumphbogens und einer Seine-Rundfahrt zeigen gut gelaunte junge Kerle. Auch in Le Mans fand die Umschlagübergabe wie geplant statt. In der dem Autorennsport seit einem Jahrhundert verbundenen Stadt, die seit über 1.000 Jahren wegen ›ihres‹ Bischofs St. Liborius eng mit der Stadt und dem Erzbistum Paderborn verbunden ist, hatte sich kurz zuvor die bis heute größte Katastrophe des Autorennsports ereignet. Das dort aufgenommene Foto zeigt zahlreiche Kränze, die zum Gedenken an die 84 Todesopfer am Ende des 24-Stundenrennens vom 11. Juni 1955 aufgehängt worden waren.

In einer großen Schleife ging es anschließend über Biarritz, die Pyrenäen und natürlich Doran wieder zurück ins heimische Castrop-Rauxel. Ausländerfeindliche Erfahrungen im Hinblick auf den erst zehn Jahre zurückliegenden Krieg, so Willi Neuhaus, habe er nirgendwo gemacht. »Ganz im Gegenteil: Wir sind überall freundlich aufgenommen worden und ein Fischer in Biarritz hat mich sogar beim Muschelfang mitgenommen«, erinnert er sich zurück. Das gelte im Übrigen auch für alle Auslandsreisen, die er in den Jahrzehnten danach mit seiner Familie unternommen habe.

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