Stadtmagazin Castrop-Rauxel: In der Stadt

Hermann Paschasius Rettler

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Erinnerungen an einen Bischof des Volkes

Stellen Sie sich einen Bischof vor, der im Jeep über schlammige Urwaldpisten zuckelt, sich wie ein einfacher Mann kleidet und mit den Landarbeitern aus einem Topf zu Mittag isst … Die Rede ist von Hermann Paschasius Rettler, der am 26. Januar 1915 in Merklinde das Licht der Welt erblickte. Bis zu seinem Tod am 16. September 2004 setzte er sich in Brasilien für die Armen, Schwachen und Kranken ein. Ein prunkvolles Ornat hat er nie besessen, sein Bischofskreuz soll aus schlichtem Holz geschnitzt gewesen sein. Und doch zählt er zu den wohl schillerndsten Persönlichkeiten, die Castrop-Rauxel je hervorgebracht hat.

Von Merklinde nach Maranhao

Wie alles begann: Als viertes von acht Kindern wurde Hermann Rettler in ein religiös geprägtes Elternhaus hineingeboren: Sein Vater war Lehrer und Organist der katholischen Gemeinde, später Rektor der Marienschule. Bereits mit 18 wechselte Hermann auf ein Gymnasium des Franziskanerordens in Belgien, 1935 machte er sich mit gerade einmal 20 Jahren auf den Weg ins ferne Brasilien, wo er fortan als Missionar, Seelsorger, Lehrer und Priester tätig war. Mit den Glaubensfreunden zu Hause in Merklinde blieb er stets in Verbindung, doch erst 1952, 17 Jahre nach seinem Fortgang aus Europa, gönnte sich ›Pater Paschasius‹ seinen ersten Heimaturlaub.

Bischofsweihe in der heimischen Pfarrkirche

Im Sommer 1968 dann die Sensationsnachricht: Papst Paul VI hatte den engagierten Deutschen zum ersten Bischof der neu gegründeten Diözese Bacabal im brasilianischen Bundesstaat Maranhao bestimmt. Die Bischofsweihe sollte am 12. September 1968 auf besonderen Wunsch von Hermann Rettler in Merklinde stattfinden, weshalb die Pfarrkirche in einer Blitzaktion renoviert wurde. Und auch vor Ort in Brasilien erregte die unerwartete Ernennung Aufsehen: Über 1.500 Menschen strömten zur Festmesse im Stadion von Bacabal.

Korruption, Gewalt und Epidemien

Die Rahmenbedingungen für den Aufbau eines neuen Bistums im Nordosten des Landes waren allerdings wenig feierlich: Themen wie Korruption, Gewalt und Unterdrückung, Prostitution und Analphabetismus begleiteten den Franziskaner seit seinem Amtsantritt. Dazu kamen Naturkatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen ganzer Landstriche. Insbesondere zur Regenzeit explodierte die Zahl von Malaria-, Fieber-, Tuberkulose-, Typhus- und Wurmerkrankungen. Die Säuglingssterblichkeit lag bei über 50 Prozent, die durchschnittliche Lebenserwartung bei gerade mal 38 Jahren. In seinem ersten Brief an die Heimatgemeinde schrieb Hermann Rettler: »Ihr versteht, daß man da gute Nerven und starke Gesundheit haben muß, um all das zu verkraften.«

Unter einem Dach mit Moskitos, Schlangen und Vogelspinnen

Trotz der widrigen Umstände ließ sich der neue Würdenträger nicht entmutigen. Als ›Bischof des Volkes‹ war er immer dort anzutreffen, wo er am dringendsten gebraucht wurde: mitten unter den Menschen. Statt in einem Palast lebte ›Dom Pascasio‹ in einer abrissreifen Bruchbude – unter einem Dach mit Flöhen, Moskitos, Schlangen und Vogelspinnen. Waren die Wege überschwemmt, reiste er mit dem Maultier, um die entlegenen Pfarreien innerhalb des von ihm betreuten, 17.200 Quadratkilometer großen Areals zu erreichen.

›Hilfswerk Babacal‹ verschickte hunderte Päckchen

Derweil war man sich zu Hause in Merklinde auch der Verantwortung bewusst, die die ›Beförderung‹ mit sich brachte. So wurde auf Anregung des damaligen Pastors Jäker und Otto Fritsch, dem Vorsitzenden des Pfarrgemeinderates, das ›Hilfswerk Bacabal‹ ins Leben gerufen, um die schwierige Aufbauarbeit durch finanzielle Hilfen und Sachspenden zu unterstützen. Hunderte Pakete mit Wäsche, Medikamenten und medizinischen Geräten wurden in den Folgejahren aus Castrop-Rauxel nach Brasilien verschickt. So konnte der unermüdliche Einsatz des Bischofs und seiner Mitstreiter vor Ort schon bald erste Früchte tragen: Es wurden eine ambulante Krankenstation eingerichtet und ein Grundstück für eine Handwerkerschule und eine Sozialstation erworben.

»Ich (..) verzichte gern auf alle Privilegien (...) , wenn es darum geht, mich einzusetzen für Gerechtigkeit und Frieden«

In anderen Bereichen kämpfte Herrmann Paschasius Rettler indessen gegen Windmühlen. Ein brisantes Thema war die gewaltsame Vertreibung von Landarbeiterfamilien durch gierige Großgrundbesitzer: Unzählige Menschenleben fielen dem Konflikt zum Opfer. Ein anderes Problem stellte die mangelhafte Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Medikamenten dar. Der mutige Bischof scheute sich nicht, Missstände öffentlich anzuprangern, und legte sich bei seinen Bemühungen für Frieden und Gerechtigkeit auch mit Regierung und Behörden an. In einem Situationsbericht schrieb er 1973 dazu: »So dürfte ich es im Augenblick nicht wagen, in die Heimat zu fahren, da die Möglichkeit besteht, dass man mich nicht wieder ins Land lässt. Ich kann und darf aber meine Aufgabe als Bischof hier nicht verraten und verzichte gern auf alle Privilegien und Vorteile, wenn es darum geht, mich einzusetzen für Gerechtigkeit und Frieden.«

Vom Protestler zum Ehrenbürger

Erst im Sommer 1988 fand Herrmann Rettlers Kampf gegen Gewalt, Entrechtung und Unterdrückung schließlich doch noch offizielle Anerkennung: Nach der Stadt Bacabal verlieh ihm nun auch noch der Staat Maranhao die Ehrenbürgerwürde. Darüber hinaus wurden zwei Polizeichefs in Bacabal abgestellt und Materialien für den Wiederaufbau der im Zuge des Landkonflikts abgebrannten Hütten zugesichert. Trotz dieses neuerlichen Sieges begann sich langsam das Ende der ›Ära Rettler‹ abzuzeichnen. Im Winter 1989/90 verabschiedete sich ›Dom Pascasio‹  mit 75 Jahren – dem ›Rentenalter‹ für Bischöfe – in den verdienten Ruhestand. Dies bedeutete für ihn aber keineswegs, fortan auf der faulen Haut zu liegen.

Letzte Station: das Lepradorf Pirapitingui

Im Staate Sao Paulo, am Rande der Stadt Itu, wartete schon die nächste Aufgabe: das Hospitaldorf Pirapitingui, eine Station für Leprakranke. Rund 850 Menschen hausten hier auf abgeschlossenem Terrain und weitgehend isoliert, da die Erkrankung damals (wie heute) zur gesellschaftlichen Ächtung und Ausgrenzung führte. Um seiner Berufung als Seelsorger gerecht zu werden, beharrte Herrmann Rettler darauf, entgegen den gesetzlichen Bestimmungen mitten unter den Bewohnern zu leben – und sicherte sich schließlich eine Ausnahmegenehmigung. Sein Argument: Die Liebe zu den Kranken stehe höher als das Gesetz.

» (...) daß ich mich so mit Euch verbunden fühle, ja zu Hause fühle, als ob ich gestern gegangen sei«

Im Frühling 1993 wurde ›Dom Pascasio‹ zum Ehrenbürger der Stadt Itu ernannt, im Herbst desselben Jahres folgte das Ehrenbürgerrecht der Stadt Castrop-Rauxel. Anlässlich seines 25-jährigen silbernen Bischofsjubiläums war Herrmann Rettler am 12. September 1993 noch einmal in die Pfarrkirche Merklinde zurückgekehrt:  »Wenn ich heute nach 58 Jahren Missionstätigkeit in Brasilien die Heimat wieder besuchen kann, so darf ich euch sagen, daß ich mich so mit Euch verbunden fühle, ja zu Hause fühle, als ob ich gestern gegangen sei.«

Quellen: Stadtarchiv, Archiv St. Marien

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