Stadtmagazin Castrop-Rauxel: Historisch

Fantasy

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Jule Springwald erzählt

Manchmal, wenn ich nachts nicht – oder vielleicht auch besonders tief – schlafe, schwinge ich mich auf mein geflügeltes Pferd ›Fantasy‹. Sie ist meistens lammfromm, von extrem weißer Farbe wie ein unbeschriebenes Blatt, mit tintenschwarzen Augen wie Seen, in denen vieles versunken ist, aber jederzeit wieder auftauchen kann.

In diesen Nächten lasse ich sie einfach loslaufen in eine Richtung, die wir beide nicht kennen; der Weg ist dann das Ziel, und wir begegnen unerwartet den Wesen der Nacht, der anderen, besonderen Welt.

In anderen Nächten aber scheint sich die Farbe von Fantasys Fell zu verändern. Manchmal schimmert sie eher rötlich, fast kupferfarben, manchmal blausilbern wie gefrorene Seen und Teiche im Mondlicht. In dieser Nacht, von der ich euch erzählen will, sah sie aus wie schmelzendes Gold. Es tropfte von Fantasy herunter und sie schaute mich an. Ihre Augen sahen aus, als wäre ein Stein in ruhiges Wasser gefallen.

Als wir losritten, schien sie den Weg genau zu kennen. Auch hatte sie es ganz offensichtlich sehr eilig. Sie flog geradezu über die weiten Lande. Es war eine sternenklare Nacht mit einem riesigen Vollmond im beginnenden Herbst, als sie mich zum Zauberwald entführte.

Der Weg lag silbrig glänzend vor uns, bis wir zu den ersten Bäumen kamen. Eine leichte Brise wehte, sodasss die Bäume sich sanft wiegten und tanzende Schatten auf unseren Pfad warfen. Alles schien ruhig, alle Tiere schliefen, nur ab und zu raschelte das Laub, das sich zum Blättertanz bereit machte. Nicht mal die Mäuse und die anderen Geschöpfe der Nacht waren zu hören. Die Welt hielt den Atem an, um Luft zu schöpfen für das großartige Schauspiel, das wir gleich sehen sollten.

Da plötzlich begann ein Wolf zu heulen, nein, zu singen. In der Tat war es ein schaurig schöner Gesang, der meine Ohren erreichte. Eine endlose, traurig süße Melodie erfüllte mich, den Wald, die Welt. Es schien, als ob die Musik nicht von außen zu mir kam, sondern in meinem Innern entstand.
Fantasy begann, sacht zu traben, dann wurde sie immer schneller – im Takt der Töne, die meinem Herz entsprangen. Wir jagten durch den Zauberwald, als wäre etwas hinter uns her. Fantasy lief der Schweiß von den Flanken und ich meinte, hinter uns kleine Goldtröpfchen zu sehen.

Plötzlich hörte die Musik schlagartig auf. Fantasy verfiel in einen leichten Trab, wurde immer langsamer und blieb schließlich stehen. Noch atmete sie heftig und schnaubte, aber je ruhiger sie wurde, umso mehr wurde ich mir unserer Umgebung bewusst.

Es war nicht mehr still im Zauberwald, Eulen schuhuten und Füchse bellten leise, hin und wieder hörte man noch Töne des jetzt mehrstimmigen Liedes der Wölfe. Dann sah ich viele Augenpaare um uns herum aus dem Unterholz blicken, in einiger Entfernung sah ich zuerst nur schemenhafte Bewegung auf nebligen Lichtungen, bis ich die tanzenden Elfen erkannte. Vor meinen Füßen plätscherte es. Ich stand am Zwergenweiher, den ich schon so lange gesucht und nie gefunden hatte. Ein paar kleine Frösche quakten schlaftrunken, der Mond spiegelte sich silbern im Wasser, und tatsächlich stand am anderen Ufer das Zwergenhaus, genau so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte: aus Baumstämmen gezimmert, mit kleinen, mehrteiligen Fenstern, einladend zum Eintreten für den, der es sehen konnte. Neben dem Haus ein kleiner, umzäunter Garten, und in dem Garten eine Wäscheleine. An dieser hing – mitten in der Vollmondnacht – etwas Eigenartiges. Es sah aus wie Wolle, schneeweiße Wolle, ziemlich flauschig. Plötzlich öffnete sich die Tür. Gleichzeitig hörte man in den Bäumen ein leichtes Rauschen. Als ich nach oben blickte, sah ich, wie sich die Blätter von den Zweigen lösten und in der frischen Brise hin und her schwankten. Der Blättertanz hatte begonnen. Wunderbar bewegten sie sich im Wind.

Weil ich aber auch gesehen hatte, dass sich die Tür des Zwergenhauses geöffnet hatte, riss ich meine Augen von diesem schönen Schauspiel los und erblickte ein Wesen, das ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Eigentlich sah es aus wie eine Zwergenfrau. Aber irgendetwas fehlte. Dann sah ich, dass die Gestalt keinen Bart hatte. Nun ist ja allgemein bekannt, dass alle Zwerge, ob Mann oder Frau, einen Bart haben. Jedenfalls hat noch niemand einen Zwerg ohne Bart gesehen. Vermutlich haben viele Menschen nicht mal einen Zwerg mit Bart zu Gesicht bekommen.

Inzwischen war die Luft ganz von tanzenden, wirbelnden, silbrig glänzenden Blättern erfüllt, sodass ich das Geschehen vor mir nur undeutlich wahrnahm. Die Gestalt bewegte sich durch den Garten auf die Wäscheleine zu und nahm die ›Wolle‹ ab. Eine kleine Bewegung, dann drehte sie sich um. Und siehe da, dort stand eine Zwergin in ihrer ganzen Pracht, mit Bart.

Schlagartig war der Blätterreigen beendet, der Boden und das Zwergenhaus, selbst der Weiher war von Silberlaub bedeckt. Es schimmerte im Vollmondlicht, und langsam begannen Nebelschwaden, von tanzenden Elfen gezogen, sich durch die Bäume zu bewegen.

Fantasy wurde etwas unruhig, da die Elfen ihr ab und an zu nahe kamen, sodass ich beschloss, mich auf den Heimweg zu machen. Als mein Pferdchen bemerkte, dass es nach Hause ging, fiel es in einen leichten Galopp. Bald waren wir zu Hause angekommen. Fantasy wieherte einmal kurz.

Ich erwachte gut ausgeruht und konnte mich an die traumhaften Erlebnisse der Nacht erinnern, nur nicht an den Weg dorthin. Jedenfalls habe ich aber gesehen, dass in der Vollmondnacht des beginnenden Herbstes nicht nur der Blättertanz beginnt, sondern auch die Zwergenfrauen ihre Bärte waschen.

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